Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut (German Edition)
seien, die amerikanischen Kulturen zu dominieren. Doch nun müssen wir fragen, weshalb die Mexikaner und Peruaner, welche die früheren Länder der Azteken und Inka bewohnen, arm sind. Die Spanier mögen durch den Zugang zu Weizen, Gerste und Pferden reicher geworden sein als die Inka, doch der Einkommensabstand zwischen den beiden war nicht allzu groß. Das Durchschnittseinkommen eines Spaniers machte wahrscheinlich weniger als doppelt so viel wie das eines Bürgers des Inkareiches aus. Aus Diamonds These folgt, dass die Inka, nachdem sie die erforderlichen Tier- und Pflanzenarten sowie die Verfahren, die sie nicht hatten entwickeln können, kennengelernt hatten, rasch den Lebensstandard der Spanier hätten erreichen müssen. Aber nichts dergleichen trat ein. Im Gegenteil, im 19. und 20. Jahrhundert bildete sich eine ständig wachsende Einkommenslücke zwischen Spanien und Peru heraus. Heute ist der durchschnittliche Spanier über sechsmal so reich wie der durchschnittliche Peruaner. Diese Einkommensdifferenz ist eng mit der uneinheitlichen Verteilung moderner industrieller Technologien verbunden, doch das hat wenig mit der Fähigkeit zur Domestizierung von Tieren und Pflanzen oder mit wesentlichen Unterschieden der landwirtschaftlichen Produktivität zwischen Spanien und Peru zu tun.
Während Spanien, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, Innovationen wie Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Elektrizität, Mechanisierung und Fließbandproduktion übernahm, verzichtete Peru darauf oder vollzog den Prozess nur sehr langsam und unvollkommen. Diese technologische Lücke besteht noch heute und weitet sich aus, während Innovationen vor allem im Bereich der Informationstechnologie in vielen entwickelten und einigen sich rasch entwickelnden Staaten weiteres Wachstum fördern. Diamonds These lässt offen, warum sich diese wichtigen Technologien nicht über die ganze Welt verbreiten und zur Anpassung der Einkommen beitragen. Genauso wenig erklärt sie, weshalb die nördliche Hälfte von Nogales so viel reicher ist als ihre Zwillingsstadt südlich des Zaunes, obwohl beide vor fünfhundert Jahren derselben Kultur angehörten.
Die Geschichte von Nogales verweist auf ein anderes grundlegendes Problem bei der Schlüssigkeit von Diamonds These: Wie gesagt, waren Peru und Mexiko, ungeachtet der Nachteile des Inka- und des Aztekenreiches im Jahr 1532, unzweifelhaft wohlhabender als Nordamerika, das ebendeshalb vermögender wurde, weil es voller Begeisterung die technischen Verfahren und Fortschritte der Industriellen Revolution übernahm. Die Bevölkerung wurde ausgebildet, und Eisenbahnstrecken durchzogen die Great Plains – ganz anders als in Südamerika. Dies lässt sich nicht mit Hinweisen auf die unterschiedlichen geographischen Bedingungen in Nord- und Südamerika erklären, die Südamerika begünstigt hätten.
Ungleichheit in der modernen Welt resultiert hauptsächlich aus der uneinheitlichen Verteilung und Übernahme von Technologien, und Diamonds These enthält tatsächlich wichtige Argumente hierzu. So trägt er, dem Historiker William McNeill folgend, vor, dass die Ost-West-Orientierung Eurasiens den Weg für die Ausbreitung von Nutzpflanzen, Tieren und Innovationen vom Fruchtbaren Halbmond nach Westeuropa ermöglicht habe, während die Nord-Süd-Orientierung der Amerikas die Ursache dafür gewesen sei, dass die in Mexiko entwickelten Schriftsysteme nicht bis in die Anden oder nach Nordamerika weitergegeben wurden. Allerdings liefert die Orientierung der Kontinente keine Begründung für die Ungleichheit der heutigen Welt.
Betrachten wir Afrika. Zwar bildete die Sahara eine bedeutende Schranke für den Warentransport und die Weitergabe von Ideen aus dem Norden in die Gebiete südlich der Wüste, doch sie war nicht unüberwindlich. Die Portugiesen – und dann andere Europäer – segelten um die Küste und beseitigten Wissensunterschiede zu einer Zeit, als das Einkommensgefälle im Vergleich zu heute noch sehr gering war. Seitdem hat Afrika den europäischen Kontinent nicht eingeholt, sondern ist ihm gegenüber im Gegenteil weit zurückgefallen, so dass mittlerweile ein beträchtlicher Einkommensunterschied zwischen den meisten afrikanischen und den europäischen Ländern besteht.
Außerdem liefern Diamonds Ausführungen zur Ungleichheit der Kontinente keine Erklärung für die Unterschiede auf den einzelnen Kontinenten selbst, die ein wesentliches Element der jetzigen Weltungleichheit darstellen. Während die
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