Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut (German Edition)
Orientierung der eurasischen Landmasse beispielsweise Aufschlüsse darüber gibt, wie es England gelang, Nutzen aus den Innovationen des Nahen Ostens zu ziehen, ohne sie seinerseits erfinden zu müssen, wird nicht deutlich, warum sich die Industrielle Revolution in England statt in einem Land wie, sagen wir, Moldawien abspielte. Zudem wurden China und Indien, wie Diamond selbst betont, stark durch den großen Reichtum an Tieren und Pflanzen und durch die Orientierung Eurasiens begünstigt. Doch die meisten armen Menschen der heutigen Welt leben in diesen beiden Staaten.
Am besten lässt sich die Reichweite von Diamonds These anhand seiner Erklärungsvariablen abschätzen. Karte 4 zeigt die Verbreitung von Sus scrofa , dem Vorfahren des heutigen Schweins, sowie des Auerochsen, des Ahnen unserer Rinder. Beide Arten waren in Eurasien und sogar in Nordafrika weitverbreitet. Karte 5 gibt die Verteilung einiger wilder Vorgänger heutiger Nutzpflanzen wieder, etwa der Stammpflanzen des asiatischen Kulturreises sowie des Weizens und der Gerste. Sie illustriert, dass die frühe Wildform des Reises in weiten Teilen Süd- und Südostasiens zu finden war, während sich die Vorgänger von Gerste und Weizen in einem langen Bogen verteilten: von der Levante durch den Iran bis nach Afghanistan und Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgisistan. Diese Wildformen sind in vielen Gebieten Eurasiens anzutreffen, und ihre weite Verbreitung widerspricht der These, dass die Ungleichheit innerhalb Eurasiens auf dem Vorkommen von bestimmten Arten beruhte.
Karte 4: Die historische Verbreitung von wilden Rindern und Schweinen
Die Geographie-Hypothese versagt nicht nur bei der Begründung der Ursprünge des Wohlstands im Lauf der Geschichte und ist überwiegend inkorrekt in ihrer Schwerpunktbildung, sondern sie bietet auch keinerlei Aufschluss über die zu Anfang dieses Kapitels beschriebene Lage der Dinge. Man könnte meinen, dass sämtliche beharrlichen Muster, etwa die Einkommenshierarchien in den Amerikas oder die starken und weitreichenden Unterschiede zwischen Europa und dem Nahen Osten, durch die unveränderliche Geographie zu erklären seien. Aber davon kann keine Rede sein. Wie dargelegt, wurden die Muster auf dem Doppelkontinent höchstwahrscheinlich nicht durch geographische Faktoren geprägt. Vor 1492 wiesen die Kulturen in Mexiko, Zentralamerika und den Anden gegenüber Nordamerika und Gebieten wie Argentinien und Chile einen höheren Lebensstandard auf. Während die Geographie unverändert blieb, bewirkten die von europäischen Kolonisten durchgesetzten Institutionen eine »Schicksalswende«.
Karte 5: Die historische Verbreitung der Wildarten von Reis, Weizen und Gerste
Aus ähnlichen Gründen wird sich die Armut des Nahen Ostens nicht auf die Geographie zurückführen lassen. Schließlich war der Nahe Osten während der Neolithischen Revolution weltweit führend, und die ersten Städte entwickelten sich im heutigen Irak. Eisen wurde zuerst in der Türkei verhüttet, und noch im Mittelalter war der Nahe Osten von technischer Dynamik gekennzeichnet. Nicht die nahöstliche Geographie ließ die Neolithische Revolution in jenem Teil der Welt gedeihen, wie wir im fünften Kapitel noch ausführlich erläutern werden, und nicht die Geographie ließ den Nahen Osten später verarmen. Vielmehr liegt es an der Expansion und Konsolidierung des Osmanischen Reiches und an seinem institutionellen Vermächtnis, dass der Nahe Osten verarmte und auch heute noch arm ist.
Geographische Faktoren liefern weder für die Diskrepanzen zwischen verschiedenen Teilen der modernen Welt eine Erklärung noch dafür, dass viele Staaten, zum Beispiel Japan oder China, über lange Zeiträume stagnieren und dann einen rapiden Wachstumsprozess erleben. Wir benötigen eine bessere Theorie.
Die Kultur-Hypothese
Die zweite weithin akzeptierte Theorie, die Kultur-Hypothese, stellt einen Zusammenhang zwischen Wohlstand und kulturellen Faktoren her. Wie die Geographie-Hypothese hat sie berühmte Urheber und geht mindestens auf den großen deutschen Soziologen Max Weber zurück, der anführte, dass die protestantische Reformation und ihre Ethik eine Schlüsselrolle für den Aufstieg der modernen Industriegesellschaft in Westeuropa gespielt hätten. Die Kultur-Hypothese stützt sich inzwischen jedoch nicht mehr ausschließlich auf die Religion, sondern geht auch auf andere Überzeugungen, Werte und Gesinnungen ein.
Obwohl es politisch nicht korrekt ist,
Weitere Kostenlose Bücher