Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut (German Edition)
zurückzuführen. In den 1950er Jahren propagierte er den »Großen Sprung nach vorn«, eine radikale Industrialisierungsmaßnahme, die zu Hungersnot und Massensterben führte. In den 1960er Jahren verkündete er die Kulturrevolution, die in die Massenverfolgung der Gebildeten und überhaupt aller, deren Parteitreue angezweifelt werden konnte, mündete. Das Ergebnis waren Terror und eine gewaltige Vernichtung der gesellschaftlichen Talente und Ressourcen. Auch das gegenwärtige Wachstum hat nichts mit chinesischen Werten oder Änderungen der chinesischen Kultur zu tun, sondern es resultiert aus einer wirtschaftlichen Transformation, die durch die Reformen Deng Xiaopings und seiner Verbündeten eingeleitet wurde. Sie rückten nach Mao Zedongs Tod allmählich – zuerst in der Landwirtschaft und dann in der Industrie – von sozialistischen Wirtschaftsmaßnahmen und Institutionen ab.
Wie die Geographie-Hypothese trägt die Kultur-Hypothese wenig dazu bei, die heutige Lage der Dinge zu erklären. Gewiss gibt es zwischen den Vereinigten Staaten und Lateinamerika Unterschiede hinsichtlich des Glaubens, der kulturellen Einstellung und der Werte, doch genau wie jene zwischen Nogales, Arizona, und Nogales, Sonora, oder zwischen Süd- und Nordkorea sind diese Kontraste auf die unterschiedlichen Institutionen und die unterschiedliche institutionelle Geschichte der jeweiligen Länder zurückzuführen. Kulturhistorische Ansätze zur Erklärung der Prägung des spanischen Kolonialreiches durch die »hispanische« oder »lateinamerikanische« Kultur liefern keinen Aufschluss über die Unterschiede innerhalb Lateinamerikas – etwa darüber, warum Argentinien und Chile wohlhabender sind als Peru und Bolivien. Andere kulturelle Argumente – zum Beispiel zur zeitgenössischen indigenen Kultur – schneiden genauso schlecht ab. Zwar haben Argentinien und Chile weniger Ureinwohner als Peru und Bolivien, doch dadurch taugt die indigene Kultur trotzdem nicht als Erklärungsfaktor. Kolumbien, Ecuador und Peru weisen ein ähnliches Einkommensniveau auf, aber in Kolumbien gibt es heute nur noch sehr wenige Eingeborene, während in Ecuador und Peru zahlreiche von ihnen leben. Und schließlich dürften kulturell geprägte Einstellungen, die sich in der Regel langsam wandeln, schwerlich die plötzlichen Wachstumswunder in Ostasien und China bewirkt haben. Obwohl Institutionen ebenfalls einen Hang zum hartnäckigen Fortbestehen aufweisen, ändern sie sich unter bestimmten Umständen sehr rasch, wie wir noch darlegen werden.
Die Ignoranz-Hypothese
Abschließend sei noch eine ebenfalls verbreitete Theorie darüber, weshalb manche Staaten arm und andere reich sind, erwähnt: die Ignoranz-Hypothese. Ihr zufolge ist die Weltungleichheit darauf zurückzuführen, dass wir oder die uns Regierenden nicht wüssten, wie arme Länder reich zu machen seien. Diese Auffassung stützt sich auf die bekannte Definition des englischen Volkswirts Lionel Robbins aus dem Jahr 1935: »Ökonomie ist jene Wissenschaft, welche das menschliche Verhalten studiert als eine Beziehung zwischen Zielen und knappen Mitteln, die sich unterschiedlich einsetzen lassen.« Von dort ist es nur ein kleiner Schritt zu der Schlussfolgerung, dass sich die Wirtschaftswissenschaft auf den besten Einsatz knapper Mittel zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele konzentrieren solle.
Eine der Kernthesen der Ökonomie, das Erste Wohlfahrtstheorem, definiert denn auch die Umstände, unter denen die Zuteilung von Ressourcen in einer Marktwirtschaft aus ökonomischen Gründen sozial wünschenswert sei. Eine Marktwirtschaft ist eine Abstraktion zur Definition der Bedingungen, unter denen sämtliche Individuen und Unternehmen ungehindert beliebige Produkte oder Dienstleistungen erzeugen, kaufen und verkaufen können. Liegen solche Umstände nicht vor, spricht man von »Marktversagen«. Solch ein Versagen liefert die Grundlage für eine Theorie der Weltungleichheit, denn je öfter ein Marktversagen unbeachtet bleibt, desto ärmer wird ein Land aller Wahrscheinlichkeit nach. Die Ignoranz-Hypothese besagt, dass arme Länder deshalb arm seien, weil es in ihnen häufig zu Marktversagen komme, ihre Ökonomen und politischen Entscheidungsträger jedoch nicht wüssten, wie dies zu beheben sei, und früher auf einen falschen Rat gehört hätten. Reiche Länder wiederum seien deshalb reich, weil man in ihnen bessere politische Strategien ausgearbeitet und Fälle von Marktversagen erfolgreich beseitigt
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