Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut (German Edition)
die meisten europäischen Länder von Aristokratien und traditionellen Eliten regiert, deren Haupteinkommensquellen der Grundbesitz oder der Handel mit den Privilegien waren, die sie infolge der von Monarchen gewährten Monopole und Eintrittsschranken genossen. Im Einklang mit der Idee der schöpferischen Zerstörung führte die Ausbreitung von Industrien, Fabriken und Städten dazu, dass die Landgebiete Ressourcen einbüßten, die Pachten sanken und die Löhne, welche die Grundeigentümer ihren Arbeitern zahlen mussten, stiegen. Die bisherigen Eliten erlebten auch, dass ihre Handelsprivilegien durch neue Unternehmer und Händler eingeengt wurden. Alles in allem waren sie die eindeutigen wirtschaftlichen Verlierer der Industrialisierung.
Die Urbanisierung und die Entstehung einer gesellschaftlich bewussten Mittelschicht und Arbeiterschaft trugen zusätzlich dazu bei, dass das politische Monopol des Adels in Frage gestellt wurde. Mithin sahen sich die Aristokratien durch die Industrielle Revolution nicht nur als wirtschaftliche Verlierer, sondern sie liefen auch Gefahr, zu politischen Verlierern zu werden und ihre politische Macht aus den Händen geben zu müssen. Da ihre wirtschaftliche und politische Macht bedroht war, formten die bisherigen Eliten häufig eine beachtliche Opposition gegen die Industrialisierung.
Die Aristokraten waren nicht die Einzigen, denen die Industrialisierung schadete. Handwerker, deren Fertigkeiten durch die Mechanisierung entwertet wurden, wandten sich ebenfalls gegen die Ausbreitung der Industrie. Viele organisierten sich, begingen Ausschreitungen und zerstörten die Maschinen, die sie für den Verlust ihres Lebensunterhalts verantwortlich machten. Es handelte sich um die Ludditen, die Maschinenstürmer – ein Begriff, der heute generell mit dem Widerstand gegen den technologischen Wandel gleichgesetzt wird. John Kay, der englische Erfinder des »Flying Shuttle« (fliegendes Weberschiffchen), das er im Jahr 1733 entwickelt hatte – es war einer der ersten wichtigen Schritte in der Mechanisierung der Weberei –, musste 1753 erleben, dass sein Haus von Ludditen verbrannt wurde. James Hargreaves, der Erfinder der »Spinning Jenny«, einer revolutionären Verbesserung der Spinnerei, erlitt ein ähnliches Schicksal.
In ihrem Kampf gegen die Industrialisierung waren die Handwerker allerdings viel weniger erfolgreich als die grundbesitzenden Eliten, denn ihnen fehlte die politische Macht – die Fähigkeit, politische Entwicklungen gegen die Wünsche anderer Gruppen zu beeinflussen – der Grundbesitzer. In England schritt die Industrialisierung ungeachtet des Widerstands der Ludditen voran, weil sich die aristokratische Opposition zurückhielt. In Österreich-Ungarn und im Russischen Reich, wo die absolutistischen Monarchen und die Aristokratie viel mehr zu verlieren hatten, wurde die Industrialisierung blockiert. Dadurch geriet die Wirtschaft von Österreich-Ungarn und Russland ins Stocken. Die Länder blieben hinter anderen europäischen Nationen zurück, deren Wirtschaftswachstum im 19. Jahrhundert in die Höhe schnellte.
Ungeachtet des Erfolgs oder des Scheiterns spezifischer Schichten liegt die Lektion auf der Hand: Die bisherigen Machthaber wenden sich häufig gegen den wirtschaftlichen Fortschritt und gegen die Motoren des Wohlstands. Wirtschaftswachstum ist nicht bloß ein Prozess, in dem mehr und bessere Maschinen sowie mehr und besser ausgebildete Menschen eingesetzt werden, sondern auch eine transformative und destabilisierende Entwicklung, die mit einer umfassenden schöpferischen Zerstörung einhergeht. Das Wachstum setzt sich also nur fort, wenn es nicht von den wirtschaftlichen Verlierern, die um den Verlust ihrer wirtschaftlichen Privilegien fürchten, und den politischen Verlierern, die ihre politische Macht bedroht sehen, blockiert wird.
Der Kampf um knappe Ressourcen, Einkommen und Macht wird zu einer Auseinandersetzung um die Spielregeln, also um die Wirtschaftsinstitutionen, welche die ökonomischen Aktivitäten und deren Nutznießer bestimmen. In einem Konflikt können nicht gleichzeitig die Wünsche aller Beteiligten erfüllt werden. Manche unterliegen und sind frustriert, während es anderen gelingt, für sie vorteilhafte Ergebnisse zu erzielen. Es hat fundamentale Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung eines Staates, wer die Gewinner eines Konflikts sind. Wenn die Gruppen, die sich dem Wachstum widersetzen, den Sieg davontragen, können sie den
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