Was allein das Herz erkennt (German Edition)
aller Beteiligten gehandelt hatte?
Aber er war nicht da, und er rief auch nicht an. May bereitete das Abendessen für Kylie zu, las ihr eine Gutenachtgeschichte vor. Sie blieb auf dem Bett ihrer Tochter sitzen, noch lange nachdem das Kind eingeschlafen war, es draußen dunkel wurde und überall in der Stadt die Lichter aufflammten. Ihr Herz klopfte und sie sprang jedes Mal auf, wenn sie eine Autotür hörte.
Als das Telefon um ein Uhr morgens läutete, wusste sie, dass es Martin war. Eine dunkle Vorahnung beschlich sie. Sie hoffte inständig, dass sie sich täuschte.
»Hallo?«
»Ich bin’s.«
»Wo steckst du?«
»Ich bin –« Er zögerte. »Ich bin in einem Hotel.«
»In Boston?« Der Druck in ihrer Brust schnürte ihr die Luft ab und ihr war, als müsste ihr Herz aussetzen.
»Ja.«
»Komm nach Hause«, flüsterte sie.
»Nein, May.«
Sie blickte auf das Lichtermeer vor dem Fenster. Unterhalb von Beacon Hill lag die Common Avenue, wo Abertausende von Lichtern in Wohnhäusern, Büros und Hotels brannten. Martin war irgendwo dort unten, in Sichtweite, zu Fuß vielleicht nur einen Steinwurf entfernt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Du wolltest nicht auf mich hören«, sagte er. »Ich habe versucht dir klar zu machen, was ich für meinen Vater empfinde. Was er getan hat, war unverzeihlich, aber trotzdem bist du entschlossen, eine Versöhnung zu erzwingen.«
»Erzwingen?« May hätte am liebsten gelacht. Das Wort war hart und völlig verfehlt. Erleichtern wäre zutreffender gewesen; heilen, verhärtete Fronten aufweichen.
»Egal. Ich bleibe hier. Ich halte es für besser, wenn wir uns trennen. Du würdest nicht glücklich mit mir sein, so wie die Dinge liegen.«
»Du täuschst dich. Wir versuchen es, lernen gemeinsam –«
»Wozu? Du hast dich geweigert, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Du musstest ihn unbedingt besuchen. Du wolltest mir nicht glauben, als ich sagte, dass einige Dinge in meinen Augen absolut unverzeihlich sind.«
»Das ist mir heute Abend klar geworden«, sagte sie, die Tränen zurückdrängend.
»Heute Abend?«
»Ja. Du kannst mir nicht verzeihen, dass ich deinem Vater die Hand zur Versöhnung gereicht habe, deshalb bist du gegangen. Du hast mich abgeschrieben, genau wie ihn, hast einen Schlussstrich gezogen.«
»May –«
»Das stimmt doch, oder?«
»Ja«, sagte er. »Ich werde morgen vorbeikommen und meine Sachen holen, während du weg bist. Leb wohl.«
May schluchzte auf, aber Martin hatte bereits aufgelegt. Den Hörer in der Hand, starrte sie auf die Lichter von Boston und fragte sich, hinter welchem sich Martin verbarg. Warum hatte sie nicht auf ihn gehört? Wie hatte sie es so weit kommen lassen können? Vielleicht hatte er Recht gehabt, vielleicht hatte sie wirklich etwas erzwingen, das Schicksal auf die Probe stellen wollen.
Ihre größten Befürchtungen, und Kylies, hatten sich bewahrheitet.
Martin hatte sie verlassen, hatte sie abgeschrieben. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sie beide von Anfang an gespürt hatten, das sie beschützen sollte, ihre Liebe beschützen sollte, gab es nicht.
Sie hatte sich etwas vorgemacht.
16
M artin fegte wie ein Tornado durch die nächsten Spiele, eine geballte Ladung menschlicher Wut. In jedem einzelnen erzielte er Hattricks, und die Zeitungen verglichen ihn mit einem Roboter, der auf Sieg programmiert war. Zerfetzte Gesichtsmasken, Stockschläge, mit denen er seine Gegner erbarmungslos in die Bande prügelte – er spielte ohne Rücksicht auf Verluste, führte sich auf wie ein Berserker, der nach Blut lechzte.
Er glitt nicht mehr über das Eis, sondern rannte. Während des Trainings erzählte der Torhüter der Bruins jedem, der es hören wollte, Martin sähe gespenstisch aus, wie ein Monster in einem Horrorfilm: Das eine Auge zugeschwollen, das andere weit aufgerissen, funkelnd und glühend, stürmte er mit dem Puck vor der Stockschaufel in rasender Geschwindigkeit auf das Netz zu.
Ray versuchte mit ihm zu reden, aber Martin fauchte ihn nur an. Der Coach nahm ihn sich zur Brust, weil er wegen seiner Regelverstöße immer mehr Zeit auf der Strafbank abbrummte, aber Martin ließ ihn einfach stehen. Er verpasste einem Reporter einen Fausthieb, als der es wagte, Mays Abwesenheit bei den letzten Heimspielen zu erwähnen. Sein Bild erschien am nächsten Tag in der Zeitung und er sah aus wie ein Killer.
Kylie rief ihn im Fleet Center an, sagte ihm, sie hoffe, dass er zu ihrer Geburtstagsparty kommen könne.
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