Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Worte gingen May nicht mehr aus dem Kopf. Sie hätte sich Tobin gerne anvertraut. Die Scheune war dunkel, bis auf einen einzigen Lichtkreis über dem Arbeitsplatz und das violette Leuchten des Fernsehgeräts. Die Eulen waren beschäftigt, jagten draußen auf den Feldern. May stützte sich auf den Tisch, fühlte sich müde und ausgelaugt.
»Du kannst dich bei mir aussprechen, May.«
»Ich weiß.«
»Haben sich die Dinge zwischen uns so verändert? Wir reden nie mehr miteinander wie früher.«
»Kylie hat noch immer diese Träume«, sagte May endlich. »Sie spricht nach wie vor von Engeln.«
»Sie hat eben viel Fantasie«, erwiderte Tobin herzlich.
»Dr. Whitpen meint, dass zwischen Kylies Visionen ein Zusammenhang besteht. Das Problem ist, dass einige Martin und seine Familie betreffen.«
»Und nun denkst du vermutlich, du solltest nicht mit mir über Martin sprechen, aber mach dir deswegen keine Gedanken. Ich schwöre dir, das ist in Ordnung. Meine Ehe hatte früher auch ihre Höhen und Tiefen. Vielleicht hätte ich öfter mit dir darüber reden sollen.«
»Bei uns gibt es keine Tiefen«, sagte May schnell.
»So habe ich es auch nicht gemeint.«
»Es klang aber so.«
»Du sollst nur wissen, dass du mir vertrauen kannst.«
Die Worte der beiden überstürzten sich in der Eile, ihre Gedanken zu äußern.
»Ich vertraue dir«, sagte May schließlich und holte tief Luft. »Du weißt, dass ich Tagebuch führe; ich schreibe Kylies Träume und Visionen auf, schon seit langem.«
»Seit du dir ihretwegen Sorgen machst.«
»Stimmt.«
»Was hat Dr. Whitpen gesagt?«
»Dass sie Martin und seinen Vater wieder zusammenbringen möchte.«
»Der Vater, der im Gefängnis sitzt.« Tobin erschauerte. »John hat mir einen Artikel in Sports Today gezeigt. Es muss schrecklich sein, ständig von der Vergangenheit eingeholt zu werden. Für Martin und für Kylie und dich.«
May verstummte. Sie wusste, dass Tobin ihr eine Hilfe sein wollte, aber plötzlich hatte sie das Gefühl, die Cartiers in Schutz nehmen zu müssen. Sie wollte ihrer besten Freundin gerne von ihrer Begegnung mit Serge und der unweigerlich bevorstehenden Auseinandersetzung mit Martin erzählen, aber sie fand nicht die passenden Worte.
Genau in diesem Moment richtete sich die Kamera auf Martin und May sah sein Gesicht auf dem Bildschirm. Sie hielt in ihren Überlegungen inne und kniff die Augen zusammen, versuchte zu erkennen, ob es stimmte, was Serge über Martins bevorzugte rechte Seite gesagt hatte.
Als die Kamera Martins Gesicht in Großaufnahme zeigte, sah sie die lodernde Wut in seinen Augen, und sie zitterte bei dem Gedanken, wohin sie noch führen mochte. Tränen traten in ihre Augen; sie wusste, dass sie nicht mehr über die Dämonen sprechen konnte, die ihn insgeheim quälten. Es wäre ihr wie Verrat vorgekommen, wie ein schwerer Vertrauensbruch.
Tobin seufzte und May sah, dass sie den Kopf hängen ließ.
»Tobe.« May wusste, dass sie ihre Freundin tief verletzt hatte.
»Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst«, sagte Tobin mit erstickter Stimme.
»Ich weiß.« May drehte sich um, sah ihrem Mann beim Spielen zu und spürte, wie ihre Beklemmung wuchs.
*
Vier Tage und Nächte waren seit ihrem Besuch in Estonia vergangen. Nach Mitternacht, als sie bei offenen Fenstern im Bett lag und eine Frühlingsbrise durch den Raum wehte, hörte May den Schlüssel in der Haustür. Sie zog ihren Bademantel an und ging nach unten. Er hatte an diesem Abend ein Spiel in Montreal gehabt, war etliche Stunden unterwegs gewesen und sah erschöpft aus.
»Martin.« Sie warf sich in seine Arme.
» Je t’aime, je t’aime.«
Er ließ seine Eishockeytasche fallen und küsste sie, bis sie beide außer Atem waren, hielt sie in den Armen, als wollte er sie nie mehr loslassen. Sein Blick zeigte ihr, wie sehr er sie vermisst hatte. Er sah müde aus, tiefe Linien hatten sich in sein Gesicht und um seinen Mund gegraben und sie nahm ihn bei der Hand.
»Hast du Hunger? Soll ich dir ein Sandwich machen? Oder möchtest du eine Suppe?«
»Ich möchte dich nur anschauen.«
»Warum?« Sie lachte.
»Ich war lange weg. Wir haben alle Spiele gewonnen, und ich wünschte, du wärst dabei gewesen.«
May schluckte, wandte den Blick ab. Sie wusste, sie wäre zu allen oder zumindest einigen Spielen gegangen, wenn die Reise nach Estonia nicht gewesen wäre. Ihre Geheimniskrämerei lag ihr wie ein Stein im Magen.
»Komm, setz dich. Ich muss mit dir reden.«
»Es ist
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