Was allein das Herz erkennt (German Edition)
schon spät.« Er lachte und zog sie wieder an sich. »Es gibt Wichtigeres als reden. Lass uns nach oben gehen.«
Sein Kuss war leidenschaftlich und ungestüm, und May spürte, wie seine Hände ihren Rücken hinabglitten, seine Arme sie umfingen. Ihre Heimlichtuerei bedrückte sie, aber sie wusste, dass ihr Geheimnis noch bis morgen warten konnte.
»Ich kann schon seit Tagen an nichts anderes mehr denken«, sagte er.
»Ich auch nicht«, flüsterte sie.
Er nahm seine Tasche auf und blieb am Tisch im Vestibül stehen, um seine Auto- und Hausschlüssel abzulegen. Dabei bemerkte er Mays Reisetasche, die auf einem Stuhl stand. Sie hatte sie auch bei ihrer ersten Begegnung dabeigehabt, nahm sie immer auf Reisen mit, weil sie klein war, aber trotzdem genug Stauraum für Flugscheine, Reiseführer und Kartenmaterial bot.
»Willst du verreisen?« Er lächelte, als er aufsah.
»Nein.« Er umarmte sie ungeduldig, und ihre Beklemmung wuchs. Ihm etwas zu verschweigen war eine Sache, ihn anzulügen eine andere. »Ich bin gerade von einer Reise zurückgekommen.«
»Aha.«
May nickte und Martin las die Wahrheit in ihren Augen. Sie hatte zwar ein schlechtes Gewissen, weil sie hinter seinem Rücken gefahren war, hoffte aber immer noch, dass er sich mit seinem Vater versöhnen würde. »Martin.«
Er rückte von ihr ab, schüttelte den Kopf. »Ich will es nicht wissen.«
»Ich soll dir ausrichten –«
»Ich bin müde, May. Es ist Zeit, schlafen zu gehen.«
May ergriff seine Hände und schüttelte ihn, zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. Sein Blick irrte durch das Vestibül: über die Bilder an der Wand, die Schlüssel auf dem kleinen Tisch, einen Stapel Einladungen zu Kylies Geburtstagsparty. May zitterte, aber sie umklammerte Martins Hände, ließ ihn nicht gehen.
»Hör mir zu!«
» Non! « Seine blauen Augen waren kalt. » Ecoutez ! Du hörst mir zu. Verbrenn diese Postkarten, schlag dir jeden Gedanken an ihn aus dem Kopf. Verschone mich damit. Ich will kein Wort mehr hören.«
Die Wahrheit lag auf der Hand. Das Schicksal hatte sie vor einem Jahr zusammengeführt, auf jenem verhängnisvollen Flug. Sie waren füreinander bestimmt, liebten sich, und es gab Dinge, die sie voneinander lernen konnten. Der Bruch zwischen Martin und seinem Vater hatte May ihrer eigenen Vergangenheit näher gebracht und sie spürte die heilende Kraft der Liebe, Wahrheit und Vergebung. Sie musste nur die richtigen Worte finden, musste Martin die Augen öffnen. Es ist so einfach , hätte sie gerne gesagt, so unglaublich einfach!
Aber sie zwang sich, ihre Gedanken im Zaum zu halten, leise und mit fester Stimme zu sprechen. »Ich soll dir etwas ausrichten. Von deinem Vater.«
»Behalte es für dich.« Martins Augen funkelten.
»Er hat mich gebeten, dir zu sagen, dass er dich liebt. Er –«
Aber Martin hörte nicht mehr zu. Er hatte seine Eishockeytasche und die Schlüssel gepackt und stürmte hinaus. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, so laut wie die Stahltüren im Gefängnis. »Das ist es, was du nicht siehst!«, rief sie ihm nach, den Tränen nahe. »Dass man lernen muss, zu verstehen und zu verzeihen!« May lauschte dem Echo ihrer eigenen Stimme und fragte sich, ob Kylie sie im Schlaf gehört hatte. Sie stand reglos da, wäre ihm am liebsten nachgelaufen, aber sie wusste, dass sie bei ihrem Kind bleiben musste.
*
May war überzeugt gewesen, dass Martin zur Besinnung kommen und kehrtmachen würde. Aber er kam nicht, und auch das Telefon blieb die ganze Nacht stumm. Sie verbrachte die Nacht unten im Vestibül, wartend und zitternd, in Nachthemd und Bademantel. Als die Sonne aufging, machte sie für Kylie Frühstück, legte ihr Kleidung für die Schule heraus und versuchte den Anschein zu erwecken, als sei alles in bester Ordnung. Sie redete sich ein, dass Martin nach Hause kommen würde, sobald seine Wut verpufft war.
Sie zwang sich, zur Arbeit zu fahren. Tante Enid erkundigte sich sofort, ob sie krank sei oder etwas ausbrüte, und als May ins Bad ging und sich im Spiegel betrachtete, entdeckte sie dunkle Ringe unter den Augen. Sie sah aus, als sei sie durch die Hölle gegangen.
Der Tag ging vorüber ohne das geringste Lebenszeichen von ihm. Als sie nach Boston zurückfuhr, war sie sicher, eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter vorzufinden, oder Martin selbst, der im Schlafzimmer auf sie wartete. War es denn so unverzeihlich, was sie getan hatte? Konnte Martin nicht endlich einsehen, dass sie in seinem Interesse, im Interesse
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