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Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Titel: Was allein das Herz erkennt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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bearbeiten«, sagte Tobin und machte sich an dem Stapel Papiere auf ihrem Schreibtisch zu schaffen.
    »Keine Sorge«, sagte Tante Enid. »Nehmt eure Räder und fahrt los. Ich halte die Stellung.«
    Wortlos folgte Tobin May nach draußen. Die Handgriffe an den Lenkstangen waren mit Staub und Spinnweben überzogen, und Tobin wischte sie mit bloßen Händen weg. May schob ihr Rad an, stieg auf und fuhr die Zufahrt entlang, über den knirschenden Kies, dann sauste sie den kleinen Hügel hinunter, der durch die Wiesen führte.
    Das frische Grün der Blätter schimmerte im Wind und dem Sonnenlicht, beschattete die schmale Landstraße. May trat kräftig in die Pedale, wurde immer schneller, die körperliche Bewegung tat ihr gut. Tobin folgte ihr schweigend. Sie fuhren eine Strecke, die sie seit dreißig Jahren kannten: den Feldweg an dem kleinen, versteckten Bach entlang, der meistens ausgetrocknet war, über die Brücke und am Wasserfall vorbei, über den Crawford Hill.
    Mays Augen tränten vom Wind. Sie überlegte, wie oft sie durch diese Landschaft gefahren waren, was sich verändert hatte und was geblieben war. Sie dachte an die Geheimnisse, die sie teilten, an die Dinge, die sie voneinander wussten, Dinge, die keine Menschenseele auch nur ahnte.
    Sie kamen an dem umgestürzten Baum vorbei, auf dem sie früher heimlich geraucht hatten, an dem leer stehenden Farmhaus, in dem sie ihr Blut vermischt und sich ewige Freundschaft geschworen hatten, an dem Feld mit den Heuballen, wo May zum ersten Mal geküsst worden war, an die Sackgasse, wo Tobin ihre Unschuld an John verloren hatte. Als sie zum Eisstand kamen, gab May Tobin ein Zeichen und bog mit Volldampf auf den unbefestigten Parkplatz ein. Sie fuhr gegen einen Sandhaufen, schlitterte noch ein paar Meter weiter und stürzte.
    »May, alles in Ordnung?« Tobin ließ ihr Rad fallen und lief zu ihr.
    »Ich denke schon.« May inspizierte ihre aufgeschürften Handgelenke. Sie hatte einen Riss in ihrer Jeans und Abschürfungen an Knien und Schienbeinen, als sie in den Sand geraten war. »Autsch.«
    »Du blutest.« Tobin zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Hosentasche.
    »Das mache ich schon.« May wollte ihr das Taschentuch aus der Hand nehmen. Aber Tobin ließ es nicht zu. Sie nahm Mays Handgelenke in Augenschein, kniete sich neben sie und tupfte sorgfältig die Schnitt- und Schürfwunden ab.
    »So. Gleich ist es vorbei.«
    »Du hast Genny angerufen«, sagte May.
    »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Du wolltest nicht mit mir reden und ich dachte, du brauchst jemanden.«
    May blickte auf den gesenkten Kopf ihrer Freundin. Das dunkle Haar war kurz geschnitten und voll, und im Sonnenlicht entdeckte May die ersten silbergrauen Fäden. Sie dachte daran, wie die Zeit verflog, es kam ihr vor wie gestern, dass sie beide zwölf gewesen waren. Noch im Schock nach dem Sturz und allem, was geschehen war, spürte May, wie ein Damm in ihr brach, und sie begann zu weinen.
    »Es wird alles wieder gut.« Tobin legte die Arme um May.
    »Das Gefühl habe ich nicht.«
    »Das ist nicht der erste Sturz in deinem Leben«, versuchte Tobin zu scherzen. »Du hast schon mehr Schürfwunden an den Knien überlebt, als –«
    »Mein Mann hat mich verlassen, Tobin. Ich bin hinter seinem Rücken zu dem Gefängnis gefahren und deshalb ist er gegangen.«
    »Er kommt zurück, du wirst schon sehen. Er liebt dich. Was ja kein Wunder ist. Er hat das Herz auf dem rechten Fleck, sonst hättest du dich nicht in ihn verliebt.«
    »Ich habe mich auch in Gordon Rhodes verliebt«, erinnerte May sie.
    »Geheiratet, hätte ich sagen sollen. Sonst hättest du Martin nicht geheiratet. Ansonsten gebe ich dir Recht, deine Liebesbilanz enthält einige Nieten.«
    »Und das weißt nur du.«
    »Aber jetzt hast zu Genny zum Reden.«
    »Sie kennt ihn schon von Kindesbeinen an«, versuchte May ihr zu erklären, »kennt seine ganze Lebensgeschichte, seinen Vater, seine erste Frau, Natalie … Bei ihr muss ich kein schlechtes Gewissen haben, dass ich Familiengeheimnisse ausplaudere. Martin ist furchtbar verschlossen, was solche Dinge angeht.«
    »Woher soll ich das alles wissen, wenn du nicht mit mir darüber redest? Dich deiner besten Freundin anzuvertrauen bedeutet nicht, deinen Mann zu verraten.«
    »Das ist alles noch so neu für mich. Und ich habe einen Mann geheiratet, der ziemlich viel mit sich herumschleppt.«
    »Jeder von uns hat sein Päckchen zu tragen,« stimmte Tobin ihr zu.
    May nickte, tupfte das blutende Knie ab.

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