Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Beim Klang ihrer Stimme brachte Martin kaum ein Wort heraus.
»Kylie, du weißt, wie gerne ich kommen würde. Aber die Termine …«
»Trotzdem wünsche ich mir, dass du dabei bist.«
»Ich fürchte, meine Mannschaft hat andere Pläne.«
»Lasst ihr euch scheiden, du und Mommy?«
»Darüber redest du besser mit deiner Mutter, Kylie. So, jetzt muss ich aber los, aufs Eis.«
»Du fehlst mir, Daddy«, sagte sie.
Martin legte auf, knallte den Hörer mit solcher Wucht auf die Gabel, dass er zerbrach. Ihre Stimme und ihre Worte erinnerten ihn an ähnliche Gespräche mit Natalie, vor langer Zeit. Er hatte seiner eigenen Tochter das Herz gebrochen; wie war er auf die Idee gekommen, dass er den gleichen Fehler nicht wieder machte, bei einem anderen kleinen Mädchen?
Die Aprilnächte waren lau, und Martin verbrachte sie in seinem Hotelzimmer allein vor dem Fernseher, in Boston oder wo immer er gerade spielte. Er ließ sich das Essen auf sein Zimmer bringen und sah sich Spielfilme an, während seine Teamkameraden anklopften und ihn zu überreden versuchten, mit ihnen die Stadt unsicher zu machen.
»Der Goldene Vorschlaghammer, wieder ganz der Alte«, sagten einige der Junggesellen, um ihn in Versuchung zu führen, mit ihnen um die Häuser zu ziehen.
»Verpisst euch!«, knurrte Martin, bereit, handgreiflich zu werden, wenn sie keine Ruhe gaben.
Das Telefon läutete oft, aber es war nie May. Was hätte er ihr auch sagen sollen, wenn sie angerufen hätte? Er konnte sich nicht von seiner Vergangenheit lösen, sie war in ihm erstarrt wie ein zugefrorener See, dessen Eis nie schmolz. Was mit Natalie geschehen war, war noch so klar in seiner Erinnerung, als wäre es gestern gewesen, unberührt von Zeit und Worten.
May verstand nicht – konnte nicht verstehen –, dass nichts sie jemals zurückbringen würde. Sich mit seinem Vater zu versöhnen, sich vor Augen zu halten, dass er ihren Tod nicht gewollt hatte, ihr nie absichtlich wehgetan hätte, änderte nichts daran, würde seine Tochter nicht wieder zum Leben erwecken.
Wie sehr er May auch liebte und wie gerne er die Zeit auch zurückgedreht hätte bis zu dem Tag vor dem Verrat, er konnte ihr nicht verzeihen, was sie getan hatte.
›Verrat‹ war ein starkes Wort, harsch und messerscharf wie der Stich, den es ihm versetzt hatte, als sie ihm in den Rücken gefallen war. Durch den Besuch bei seinem Vater hatte sie ihn verraten. Martin lag auf dem Hotelbett, zusammengekrümmt auf der Seite, und wünschte, es täte nicht so weh. Seine Wange war mit blauen Flecken übersät, seine Lippe aufgeplatzt, aber das waren Verletzungen, die er nicht einmal spürte.
Der Schmerz saß tief in seinem Körper, in seinem Herzen, wo Natalie ihren Platz hatte. Der einzige Mensch, der diese Wunde jemals berührt hatte, war May. Sie hatte den Schmerz mit ihrer Liebe und Zärtlichkeit gelindert, und deshalb fühlte er sich nun, als hätte sie ihm den Todesstoß versetzt.
Doch vielleicht war es so einfacher, als sich etwas anderes einzugestehen. Wenn er May aus dem Weg ging, musste er ihr nicht sagen, was mit ihm geschah. Er deckte zuerst das eine, dann das andere Auge mit der Hand ab, fixierte das Bild an der Wand. Seine Sehstärke prüfend, lag Martin auf dem Bett und versuchte, jeden Gedanken auszuschalten.
*
Als Martin zwei Wochen weg war, kam Genny eines Tages ins Bridal Barn, unter dem Vorwand, May ein paar Gläser Ananasmarmelade vorbeizubringen. Sie ließen den Korb auf Mays Schreibtisch stehen und machten einen Spaziergang durch den Rosengarten.
»Wie geht es dir?«, fragte Genny.
»Schlecht. Ich mache mir Sorgen um meine Tochter. Kylie weint und weint. Sie vermisst ihn schrecklich.«
»Und du?«
May zuckte die Achseln und wandte sich ab, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie fühlte sich wie betäubt. Sie hatte keinen Appetit mehr und stark abgenommen. In der Nacht konnte sie nicht schlafen und am Tag wünschte sie sich, nicht wach sein zu müssen. Die Stunden ohne ein Wort von Martin kamen ihr endlos vor, wie eine einzige Qual, und sie fragte sich immer wieder, was er gerade tun mochte.
»Willst du mir nicht erzählen, was dich bedrückt, May?« Genny legte ihr den Arm um die Schultern.
Zitternd schlug May die Hände vors Gesicht. »Zuerst dachte ich, er hätte es vielleicht nicht ernst gemeint. Dass er nach Hause kommen würde, wenn er sich wieder beruhigt hätte.«
»Ich weiß.«
»Das ist jetzt zwei Wochen her. Er hat die ganze Zeit nicht ein einziges Mal
Weitere Kostenlose Bücher