Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Gunsten. Für einen Schurken würde er sich nicht die Mühe machen.«
May lächelte.
»Ich war ein schlechter Ehemann. Und ein schlechter Vater. Aber ich habe versucht, mich zu ändern. Als Natalie auf die Welt kam …« Seine Stimme brach. »Ich nahm mir vor, der beste Großvater zu sein, den man sich nur wünschen kann. Für Martin da zu sein, ihm zu helfen, nicht die gleichen Fehler zu machen wie ich. Ich wollte für sie da sein. Ich wollte dieses kleine Mädchen lieben.«
»Sie haben sie geliebt«, sagte May. »Das höre ich.«
»Ich habe sie sterben lassen.« Serges Augen waren von Trauer und Schmerz erfüllt. »Egal was ich auch sonst empfunden oder getan haben mag, das ist Wahrheit.«
»Aber Sie wollten es nicht.«
» Non. Ich wollte es nicht.« Er senkte den Kopf.
Eine Glocke ertönte und die Besucher standen nach und nach auf. »Die Zeit ist um!«, brüllte ein Wärter. Die Leute wurden unruhig, wirkten angespannt. Menschen, die sich zum Abschied umarmen wollten, wurden von den Wärtern auseinander gerissen. May hätte gerne Serges Hand gehalten, ihn auf die Wange geküsst. Er war ihr Schwiegervater und sie spürte die Liebe, die er für Martin und Natalie empfand, über den Raum hinweg, der sie voneinander trennte.
»Ich wünschte, du müsstest nicht gehen.« Er wischte sich über die Augen.
»Ich auch.«
»Du hast eine hübsche Tochter, très jolie. Ich habe Bilder von ihr gesehen. Ich bin sicher –« Er verlor den Faden.
»Was?«, fragte sie, als ein Wärter sie mit einer Geste zum Gehen aufforderte.
»Ich bin sicher, dass sie Martin viel Freude bereitet. Er fand es wunderbar, eine Tochter zu haben.«
»Danke, dass Sie mir das gesagt haben.« Sie blickte ihm in die Augen. Sie dachte an ihren eigenen Vater, der etwa im gleichen Alter wie Serge wäre. Wenn sie nur noch eine letzte Minute mit ihm hätte, ihm sagen könnte, was sie wollte … was hätte sie ihm gesagt?
»Ist mit Martins Gleichgewichtssinn alles in Ordnung?«, fragte Serge plötzlich. »Ich habe ihn im Fernsehen beobachtet und manchmal kam es mir vor, als sei sein Spiel ein wenig unausgeglichen – als würde er seine rechte Seite bevorzugen und Probleme mit seiner linken haben.«
»Mir ist nichts aufgefallen.« May war überrascht.
»Vielleicht braucht er eine Brille; wäre ja kein Wunder bei den vielen Kopfverletzungen.«
May nickte. Der Abschied fiel ihr schwer, aber die Wärter forderten sie nun mit Nachdruck zum Gehen auf. Seine Postkarten und das blaue Notizbuch befanden sich in ihrer Handtasche. Sie konnte nicht glauben, dass die Besuchszeit schon vorbei war.
»Richte ihm etwas von mir aus, ja?«, sagte Serge.
»Natürlich.«
»Sag ihm, dass ich ihn liebe.«
»Das werde ich«, versprach May mit bebender Stimme. Ihr Schwiegervater hatte ihr das Wort aus dem Mund genommen. Da ihr nichts Besseres einfiel, beugte sie sich zu ihm und küsste ihn auf die Wange. Ein Wärter trat vor, um sie hinauszuscheuchen. Serge protestierte lautstark, aber ohne Erfolg.
Er drehte sich um, verschwand hinter einer dicken Stahltür, und May sah ihm über ihre Schulter nach, als sie befreit durch die andere Tür trat. Sie hatte vorgehabt, in dem Notizbuch nachzuschlagen, was Kylie im Sommer zu Dr. Whitpen gesagt hatte, aber in diesem bewegten Moment vergaß sie es.
*
May flog zurück. Die vier Tage, bis Martin von den Auswärtsspielen nach Hause kam, kamen ihr wie eine Ewigkeit vor. Wenn sie nach Black Hall fuhr, machte sie Überstunden, half Tobin, eine aufwändige Postwurfsendung von Bridal Barn vorzubereiten und versandfertig zu machen. Während Tante Enid Kylie betreute, arbeiteten sie gemeinsam bis Mitternacht und sahen sich anschließend Martins Spiel im Fernsehen an.
»Tante Enid hat mir gestern erzählt, dass du verreist warst«, sagte Tobin. Sie nahm Broschüren von einem Stapel und steckte sie in einen Umschlag.
»Ich war nur in Upstate New York.«
»Hatte das mit Kylie zu tun?«
»Warum?«, fragte May überrascht.
»Mir ist neulich aufgefallen, dass du wieder einen Blick in das Tagebuch geworfen hast. Das Traumtagebuch. Ich dachte, das Kapitel Dr. Whitpen gehört der Vergangenheit an!«
»Tut es auch.« May blickte zu Tobin hinüber. Sie hatte im Notizbuch den Eintrag vom letzten Juli nachgeschlagen: »Manche Leute können nicht mit den Augen sehen«, hatte Kylie zu Dr. Whitpen gesagt. Was mochte das mit Serges Frage »Was sieht er nicht?« zu tun haben? Vermutlich bestand überhaupt kein Zusammenhang, aber die
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