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Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Titel: Was allein das Herz erkennt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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des Sommers dramatisch verschlechtert hatte.
    Keiner von beiden hatte in der Nacht ein Auge zugetan. May hatte im Bett gelegen, an die Decke gestarrt und gewusst, dass Martin ebenfalls wach war und die Wand anstarrte. Sie beobachtete, wie die Sterne am nächtlichen Himmel aufgingen, einer nach dem anderen. Als der Hahn des Nachbarn in der Morgendämmerung krähte, hatte sie nicht eine Minute geschlafen. Serges Brief war ihr immer wieder durch den Kopf gegangen. Sie hatte ihn vom Lac Vert mitgebracht und sich gewünscht, Martin hätte ihn gelesen. An etwas anderes zu denken hatte sie nicht gewagt.
    Der heutige Tag war ihr endlos vorgekommen. Weder Martin noch sie hatten Hunger gehabt und auf das Abendessen verzichtet; sie waren auf der Route 395 nach Nordosten gefahren, zu seinem Termin mit Teddy, der nach der offiziellen Sprechstunde anberaumt war.
    »Alles in Ordnung?«, fragte sie nun und bog auf die Route 90 nach Osten ab. Die Silhouette von Boston tauchte vor ihnen auf, die hell erleuchteten Türme des Prudential- und John-Hancock-Gebäudes ragten hoch über der Stadt auf, und sie fragte sich beklommen, was sie wohl erwarten mochte.
    »Alles bestens. Und was ist mit dir?«
    »Auch alles bestens.« Sie wusste, dass sie sich gegenseitig etwas vormachten.
    Es war seltsam, Martin zu fahren. May hatte mit sechzehn ihren Führerschein gemacht, war seither immer und gerne Auto gefahren. Aber wenn sie zusammen waren, pflegte Martin am Steuer zu sitzen.
    Um die Stille zu durchbrechen, schaltete sie das Radio ein. Sie fand einen Sender mit guter Musik, und sie hörten eine Weile schweigend zu. Sie merkte, dass sie sich entspannte und die Hoffnung wuchs, dass am Ende doch noch alles gut würde. Martin empfand vermutlich das Gleiche, denn er legte seine Hand auf ihren Oberschenkel.
    »Danke, dass du mich fährst.«
    »Ich bitte dich, das ist doch das Mindeste –«
    »Und für alles andere. Dass du für mich da bist, May.«
    »Danke, dass du für mich da bist, Martin.« May hörte Tobins Worte, die ihr Mut und Stärke einflößen sollten. Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu: Er deckte gerade das eine, danach das andere Auge ab, prüfte sein Sehvermögen mit den Händen, als ob sich das Problem während der langen Fahrt von selbst beheben würde.
    Teddys Wegbeschreibung folgend, fuhren sie in die Parkgarage der Klinik und gingen durch einen gläsernen Skyway zum Büroturm hinüber. Darunter sah sah man das dunkle Wasser des Hafens, wo reger Schiffsverkehr herrschte. Fähren, Tanker fuhren vorüber und Ausflugsdampfer, auf denen gefeiert wurde, Orchestermusik drang gedämpft durch das Glas. Die Menschen genossen die Freuden eines Sommerabends an der frischen Luft, während die Cartiers die Welt der Medizin betraten, vollklimatisiert und desinfiziert, in der eine angespannte Atmosphäre herrschte.
    Im Gegensatz zu den Praxisräumen in ihrem Wohnhaus war Teddy Collins’ Arbeitsplatz in der Bostoner Augenklinik elegant und hochmodern, ganz in Weiß gehalten und chromblitzend. Sie waren gerade angekommen, als Teddy sie schon zu sich hereinrief, damit ihr Besuch keine Aufmerksamkeit erregte.
    Als May Martin in das Untersuchungszimmer folgen wollte, hielt Teddy sie an der Tür zurück.
    »Ich möchte Martin alleine untersuchen. Bitte warte in meinem Büro.«
    »Natürlich«, erwiderte May gekränkt. Sie wollte es nicht persönlich nehmen, aber es versetzte ihr trotzdem einen Stich.
    »Gehen Sie schon rein, Martin. Nehmen Sie auf dem Stuhl an dem Tisch dort hinten Platz. Ich möchte May etwas zeigen.«
    Martin nickte. Teddy brachte May in ihr Allerheiligstes. Sie legte ein weißes Lederalbum auf den Tisch, ihre Hand ruhte auf dem Einband.
    »Meine Hochzeitsfotos. Mit vielen Aufnahmen von dir und deiner Mutter. Ich dachte, du würdest sie dir gerne anschauen.«
    »Danke.« May betrachtete das aufwändig geprägte Leder, die Initialen »T & W« in verschlungenen, fließenden Schriftzügen, und sah Teddy zweifelnd an. War es ein Fehler gewesen, Teddy als Martins Ärztin auszuwählen? Sie ausgerechnet zu einer Zeit aufzusuchen, wo sie beide gelähmt waren vor Angst, und Hochzeitsfotos vorgelegt zu bekommen?
    Doch beim Anblick von Teddys zerfurchtem und einfühlsamem Gesicht, das einen höchst konzentrierten und aufmerksamen Eindruck machte, füllten sich Mays Augen mit Tränen.
    »Ich liebe ihn so sehr«, sagte May.
    »Ich weiß.«
    May senkte den Kopf, wischte sich verstohlen die Augen. »Ich habe erfahren, dass er sich auf etwas

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