Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Licht in elektrische Impulse umwandelten, und diese leiteten die Informationen über den Sehnerv zum Gehirn weiter. Aus diesen Informationen forme das Gehirn die Bilder.
»Mein rechtes Auge funktioniert perfekt«, sagte Martin und umklammerte die Stuhllehne. »Ich weiß, dass mein Sehvermögen auf dem linken Auge schwach ist, aber es wird durch das rechte kompensiert –«
Teddy fordert ihn auf, tief durchzuatmen, als sie das Kontrastmittel einspritzte. Martin spürte, wie eine Welle der Übelkeit in ihm aufstieg. Er stellte sich Jorgensen vor, der schadenfroh grinste, und das stählte ihn, als Teddy nun die Netzhautveränderungen mit einer Spezialkamera aufzeichnete. Das Blitzlichtgewitter erschreckte ihn, genau wie die Fotografen, die draußen immer vor der Umkleidekabine lauerten, wenn er sie am wenigsten erwartete.
Eine alte Erinnerung kam wieder in ihm hoch: Martin mit vier oder fünf, er ging mit seinem Vater durch einen langen Korridor. Es war nach einem Spiel, und die Mannschaft seines Vaters hatte gewonnen. Martin erinnerte sich, dass er ungeheuer stolz auf seinen Vater gewesen war, den besten Eishockeyspieler in ganz Kanada. Martin hatte die Schlittschuhe seines Vaters getragen und das Gefühl gehabt, nichts könne sie jemals trennen. Seine Mutter hatte einen Schnappschuss von ihnen gemacht.
Martin besaß die Aufnahme noch heute. Jahre später, als Serge zum ersten Mal den Stanley Cup gewonnen hatte, war Martin auf das Foto gestoßen, ganz hinten in der Schreibtischschublade vergraben. Damals war ihm sein Vater bereits entfremdet, und er hatte eine unheilvolle Mischung aus Wut und Stolz empfunden.
Nun fiel ihm sein letztes Spiel der Finals wieder ein, und wie sehr er sich gewünscht hatte, sein Vater möge ihn gewinnen sehen. Er dachte an Mays Besuch bei Serge, an den Brief, den er von ihm erhalten und nicht geöffnet hatte. Martin atmete tief aus, um sich von seinen Gedanken zu befreien.
Bilder blitzten auf einem Computer auf und Teddy druckte sie aus. Martin musste die Toilette benutzen und sie deutete auf das andere Ende des Ganges, fragte, ob er Hilfe brauche, und bat ihn, anschließend in ihrem Sprechzimmer zu warten, sie werde gleich nachkommen. Er konnte es kaum noch erwarten, die Ergebnisse zu erfahren, um sofort einen Aktionsplan zu entwickeln. Und mit der Behandlung seiner Augen zu beginnen.
*
Während der Wartezeit hatte May die übrigen alten Fotos in Teddys Album angeschaut. Ihre Hochzeit hatte an einem Junimorgen in der Old North Church stattgefunden, und da es in ihrem und Williams Leben keine Freunde oder Anverwandte mit Kindern gab, hatte May die Blumen gestreut.
»Deine Familie war ein Geschenk des Himmels«, sagte Teddy, als sie das Wartezimmer betrat.
Mays Herz sank angesichts der Begrüßung. Warum hatte sie Martin nicht erwähnt? Wäre sie nicht sofort mit der Sprache herausgerückt, wenn es gute Neuigkeiten gab? »Sie meinen meine Mutter und Großmutter, die Ihre Hochzeit organisiert haben?«, fragte May langsam.
»Alle. Euch alle. Ihr wart ein wichtiger Teil meines Hochzeitstages.«
»Danke. Wir haben nur selten an den Hochzeiten teilgenommen, die wir geplant haben. Ihre gehört zu den wenigen Ausnahmen, an die ich mich erinnere.«
»Vielleicht bin ich deshalb so froh, dass du zu mir gekommen bist«, erwiderte Teddy mit fester Stimme. »Wegen dieser Sache, meine ich. Damit ich mich revanchieren und dir und Martin helfen kann.«
Wegen dieser Sache . Drei Worte. Teddy lächelte nicht, als sie fielen. Ihre Stimme klang hart, als wolle sie May auf etwas aufmerksam machen, was getan werden musste. Ein lautloses Stöhnen stieg in Mays Kehle auf, ihr Mund war trocken. Sie sah Teddy durchdringend an, aber die Ärztin nahm an ihrem Schreibtisch Platz, legte einen Stapel Papiere und Ausdrucke zurecht und blickte erst auf, als Martin zur Tür hereinkam.
*
Dr. Theodora Collins saß an ihrem Schreibtisch, vor dem zwei Windsor-Stühle standen, und auf einem hatte May Platz genommen. Martin durchquerte den Raum und setzte sich neben sie. Er drückte ihre Hand und hörte, dass sein Atem so schwer ging, als hätte er gerade einen steilen Hügel erklommen. Tausend Fragen gingen ihm durch den Kopf, allesamt wohldurchdacht und doch verwirrend. Teddy setzte eine Lesebrille auf, bereit zu beginnen.
»Ich sage es Ihnen rundheraus. Die Situation ist kompliziert.«
Kompliziert, dachte Martin, sich an dem Wort fest klammernd. Das musste nicht schlimm bedeuten, oder schlecht. Nur
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