Was allein das Herz erkennt (German Edition)
seinem Vater im Laufe der Zeit vermutlich viele Lügen zu hören bekommen. Serge war selbst ein Experte für Halbwahrheiten und Lügen, hatte sich eingeredet, es spiele keine Rolle, gehe niemanden etwas an, und er hatte immer eine Rechtfertigung für sein Verhalten gefunden.
Er war ein notorischer Lügner und verdiente den misstrauischen Blick des Jungen.
»Vielleicht kennst du ihn. Martin Cartier. Der Goldene Vorschlaghammer.«
Ricky hob die Augenbrauen, als wollte er sagen: »Kann sein, kann aber auch nicht sein.« Dann begann er den Ball gegen die Wand zu werfen und ließ ihn einmal aufspringen, bevor er ihn fing.
»Er hat nie aufgehört zu üben. Er hat den Ball nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen, genau wie du. Behalte den Ball und dein Ziel im Auge, Ricky. Damit dein Vater stolz auf dich sein kann.«
Werfen, aufspringen, fangen. Werfen, aufspringen, fangen.
Der Wachmann kam von dem Handgemenge zurück und bezog Stellung am Tor, klatschte in die Hände, versuchte, Ricky zu verscheuchen. Der Junge fing den Ball und sah dem Wärter mit einer Mischung aus Angst und Angriffslust in die Augen.
»Hau endlich ab«, sagte Jim. »Bring mich nicht dazu, dass ich jemanden rufe, der dich hier wegholt.«
»Ich warte auf meinen Dad.«
»Erzähl keinen Unsinn. Du weißt doch, dass dein Vater tot ist. Das tut mir zwar Leid, aber deshalb kannst du trotzdem nicht stundenlang hier herumlungern.«
»Ich warte auf ihn.«
Jim schüttelte den Kopf. »Zwing mich nicht, die Polizei zu rufen und dich abführen zu lassen.«
Rickys Augen weiteten sich vor Schreck. Damit hatte der Wärter die erwünschte Wirkung erzielt: Das Wort Polizei hatte ausgereicht. Acht Jahre alt, und schon Angst vor den Gesetzeshütern. Serge bedauerte, dass Tino straffällig geworden war und seinem einzigen Sohn ein solches Erbe hinterlassen hatte. Wenn Väter nur in der Lage wären, die Uhr zurückzudrehen, ihre armseligen Lektionen zu lernen und noch einmal von vorne anzufangen, solange ihre Söhne klein waren und genug Zeit blieb, es besser zu machen.
Mit finsterer Miene trat Ricky den Rückzug an.
»Junge, vergiss nicht, weiter zu üben. Hör nicht damit auf!«, schrie Serge ihm nach.
»Wozu? Macht doch sowieso keinen Unterschied«, murmelte der Wärter.
Ricky legte den Kopf schief, als hätte er die Worte gehört. Er setzte seinen Weg schweigend fort, rückwärts, Schritt für Schritt, warf den Baseball und fing ihn mit dem Handschuh.
»Bist du Yankee-Fan? Wer ist dein Lieblingsspieler?«, rief Serge ihm nach.
Ricky öffnete den Mund, als wollte er antworten. Doch stattdessen drehte er sich um und hielt ihm die Rückseite seines T-Shirts hin, wo der Name MARTINEZ aufgedruckt war. Serge war stolz, dass sich der Junge auf kein Gespräch einließ.
»Tino Martinez. Guter Mann«, rief Serge.
Ricky nickte: Serge sah, wie sein Kopf bestätigend auf und ab hüpfte. Er ging schneller, dann begann er zu laufen.
»Lass dich hier ja nicht wieder blicken!«, sagte Jim.
»Übe, so oft es geht!«, rief Serge ihm nach. »Und sprich nicht mit Fremden!«
Er fragte sich, ob die Post schon da war. Er sah jeden Tag nach. Seit er Martin den Brief geschrieben hatte, gab es etwas, wovon er träumen, worauf er hoffen konnte. Es gab einen Grund, jeden Morgen aufzustehen, und dazu hatte es nicht mehr bedurft als einer Briefmarke und eines Umschlags. Er ging durch den Hof, sah nach, ob er Post hatte, und dann begann er zu laufen.
*
Die Cartiers hatten beschlossen, vorerst in Black Hall zu bleiben, statt in das Stadthaus zurückzukehren, weil die Luft auf dem Lande kühler, frischer und mehr wie am Lac Vert war; außerdem war es einfacher, tagsüber eine Betreuung für Kylie zu finden.
»Sag, wie ich dir helfen kann«, hatte Tobin gesagt, nachdem May sie über den neuesten Stand der Entwicklung aufgeklärt hatte. »Ich meine es ernst, May. Frag einfach. Ich halte die Daumen, dass alles wieder gut wird. Ein Sportler wie Martin …«
»Ich weiß.« May ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie hatte nicht vor Martin weinen wollen. Es bestand immer noch Hoffnung. Teddy hatte noch keine endgültige Diagnose gestellt. »Das ist so unfair«, schluchzte May. »Er hat Angst, Tobin. Und ich kann nicht mit ansehen, wie er sich quält.«
»Er hat dich. Ihr steht das gemeinsam durch.«
Sie fuhren die weite Strecke nach Boston, und dieses Mal hatte er nicht einmal Anstalten gemacht, sich hinter das Steuer zu setzen. Sie wusste, dass sich sein Sehvermögen seit Beginn
Weitere Kostenlose Bücher