Was allein das Herz erkennt (German Edition)
ihr gepresst.
May ging auf ihn zu, um ihn zu berühren und wissen zu lassen, dass sie bei ihm war, aber er stürmte an ihr vorbei. Er lief den Weg zum See hinunter, immer schneller, legte ein mörderisches Tempo vor. May beobachtete mit Kylie und Thunder an ihrer Seite, wie ihr Mann sich entfernte, bis er nur noch ein verschwommener Fleck war und hinter dem Ausläufer des Berges verschwand.
Als sie sich umdrehte, war Kylie in den Anblick des Stickbildes vertieft, das neben dem Fenster hing. Gemeinsam betrachteten sie die Tiere, die einträchtig schliefen, und May las noch einmal den Bibelspruch, der in fein säuberlich gestickten Buchstaben das Motiv umrahmte: »Der Wolf wird bei dem Lamm weilen und der Leopard wird bei dem Böckchen lagern … und ein Kind wird sie führen.«
Kylie hatte ihn wohl auch gelesen, denn sie sah May stirnrunzelnd an. »Ich war das Kind«, sagte sie. »Natalie hat es mir gesagt. Ich sollte ihn irgendwohin führen, aber ich bin zu spät gekommen.«
»Nein, das bist du nicht«, erwiderte May.
26
D ie Bruins hatten mit dem Transfer den größten Coup aller Zeiten gelandet: Nils Jorgensen gehörte nun zu ihrem Team. Mit den beiden Superstars Nils und Martin an Bord war der Stanley Cup den Bruins so gut wie sicher. »Da wird es krachen«, prophezeiten die Sportreporter. »Die Rivalität zwischen Jorgensen und Cartier ist lang und erbittert, sie wird sich nicht einfach in Luft auflösen, nur weil sie das gleiche Trikot tragen.«
Da die Abreise nach Boston bevorstand, wusste May, dass es zwischen Martin und ihr noch etwas zu klären gab. Martin redete ständig davon, den Termin bei Teddy abzusagen, aber die Mannschaftsbesprechung hätte er um keinen Preis der Welt verpasst. Er wollte immer noch mit dem Kopf durch die Wand.
Als sie packte, holte sie den Brief, den Martin in den Papierkorb geworfen hatte, aus der Schreibtischschublade und glättete ihn. Sie ging damit zu Martin und hielt ihn hoch.
»Den hast du weggeworfen.«
»Ich weiß.«
»Ich habe ihn geöffnet.«
Sein Gesicht rötete sich vor Zorn und er schüttelte den Kopf, seine Augen verengten sich, und sie verspürte einen Anflug von Angst. Vielleicht hatte er wieder vor, sang- und klanglos zu verschwinden. Sie packte sein Handgelenk, hielt ihn fest.
»Das hättest du lassen sollen.« Er versuchte, seine Hand wegzuziehen.
»Es war mir klar, dass du so reagieren würdest, aber ich bin anderer Meinung. Du solltest ihn lesen.«
»Es gibt im Moment wichtigere Dinge, die mir im Kopf herumgehen.«
»Das meinst du, aber du täuschst dich.« May versuchte zu lächeln und Martin explodierte: »Mein verdammter Erzfeind spielt jetzt in meinem Team mit, und das soll nicht wichtig sein?«
»Martin, lies den Brief deines Vaters.«
»Ich werde vergessen, dass du ihn geöffnet hast. Wirf ihn weg, auf der Stelle.«
»Du hast mich schon einmal deswegen verlassen.« May hielt sein Handgelenk weiter umklammert. »Es hat mir das Herz gebrochen, es war die Hölle, Martin! Es war so schlimm, dass ich den ganzen Sommer geschwiegen und das Thema nicht erwähnt habe, obwohl es für uns alle ungeheuer wichtig ist. Du musst diesen Brief lesen. Bitte –«
»Vergiss es, May«, sagte er, gefährlich leise.
»Das kann ich nicht.«
Er zuckte die Achseln und begann, ihr Gepäck in den Wagen zu laden.
*
Am nächsten Tag betrat Martin das Fleet Center, vorbei an einer Horde Reporter und Fotografen. Blitzlichter flammten auf. Sie bestürmten ihn mit Fragen, aber er ignorierte sie. Einen Schritt nach dem anderen. May hatte ihn vor dem Stadion abgesetzt. Sie hatte sich erboten, ihn zu begleiten, aber das hätte verdächtig ausgesehen. Er bewegte sich langsam und mit Bedacht, achtete darauf, nicht über die Kabel der Fernsehcrew zu stolpern.
»Martin, ist jetzt Schluss mit der Rivalität?«
»Werden Sie sich die Hand zur Versöhnung reichen?«
»Alles vergeben und vergessen?«
»Martin, werden Sie Nils heute eine frische Narbe verpassen?«
Martin schenkte den Journalisten keine Beachtung und verschwand in der Umkleidekabine. Das Licht hier drinnen war dämmrig, aber er konnte Stimmen hören. Die vertrauten Frotzeleien seiner Teamkameraden, die Scherze über die letzte Saison machten und sich gegenseitig mit ihren Prahlereien über Saufgelage und die Frauen während der spielfreien Zeit zu übertreffen versuchten. Ray lachte und Martin und schlug die Richtung ein, aus der seine Stimme kam.
Sein Mund war trocken. Er sah die eigene Hand vor Augen
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