Was allein das Herz erkennt (German Edition)
normalerweise führst du dich auch nicht wie ein Arschloch auf. Gegenüber dem Coach. Und der Mannschaft.«
»Tut mir Leid.«
»Ich weiß, dass der Transfer hart für dich ist. Jorgensen ist gewöhnungsbedürftig, für uns alle.«
»Er ist ein arroganter Scheißkerl.«
»Ja, eine richtige Primadonna. Protzt mit seinem Marktwert, seinem Ruhm und Reichtum und reibt uns unter die Nase, wie es ist, wenn man zwei Jahre in Folge den Stanley Cup gewonnen hat.«
»Vor unserer Nase weggeschnappt.«
»Wohl wahr. Aber in einer Hinsicht hat der Coach Recht – wir müssen die Vergangenheit begraben. Jorgensen ist der beste Goalie in der NHL, und er gehört jetzt zu uns. Sieh es doch einfach aus der Warte.«
»Das fällt mir schwer.«
»Mag sein, aber das ist für alle besser.« Ray hielt inne. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung mit dir ist?«
» Bien sûr . Mir geht es blendend.«
*
May suchte Unterstützung bei Tobin. Sie telefonierten fünfmal am Tag, als Ausgleich dafür, dass May Urlaub genommen hatte und sie sich nicht jeden Tag im Bridal Barn sahen.
»Ich mache mir Sorgen«, sagte sie. »Er schottet sich immer mehr ab. Schläft ständig, als würde es dadurch besser.«
»Ich glaube, er schämt sich der Situation«, fuhr sie fort. »Das ist das Schlimmste daran. Er kann nichts dafür, aber er versteckt sich, als ob er seinen Freunden nicht ins Gesicht sehen könnte.«
»Genauso wie bei John, als er arbeitslos wurde.«
»Manchmal möchte ich die Schuld auf das Eishockey schieben. Weil es so rau dabei zugeht und Verletzungen einfach hingenommen werden. Ich frage mich, wie Serge und Agnes zulassen konnten, dass er sich so eine Sportart aussucht; Serge wusste doch, wie brutal sie sein kann. Er wusste es aus eigener Erfahrung, Tobin.«
»Wie John und Michael mit ihrem selbst gebauten Rennwagen. Ich denke oft darüber nach. Aber Väter und Söhne … das ist ihre Art, eine Beziehung zueinander aufzubauen. Zu kommunizieren. Manchmal glaube ich, dass es die einzige Art ist, ihre Liebe zueinander zu zeigen. So ein gefährlicher Sport schafft Gemeinsamkeit, und dafür gehen sie das Risiko ein, verletzt zu werden.«
»Mag sein.« May sah Serge im Gefängnis vor sich, das Gesicht von den Verletzungen mit Pucks und Stöcken vernarbt, genau wie Martins.
*
»Dein Coach hat wieder angerufen«, sagte May einige Tage später. Sie war nach oben gegangen und hatte Martin am helllichten Tag schlafend im Bett vorgefunden. Genau wie sie Tobin erzählt hatte. In letzter Zeit verkroch er sich ständig unter der Bettdecke, um den Tag herumzubringen.
»Lass mich in Ruhe. Ich bin müde.«
»Du hast vierzehn Stunden am Stück geschlafen.« May nahm auf der Bettkante Platz. Thunder schlief neben Martins Bein und sie musste ihn beiseite schieben. »Da kann man nicht müde sein.«
Martin drehte ihr wortlos den Rücken zu.
»Er hat mich daran erinnert, dass wir Samstagabend mit Nils und Britta Jorgensen zum Essen verabredet sind. Wir treffen uns um Punkt acht, im Ritz. Soll ich Tante Enid fragen, ob sie bei Kylie bleibt?«
»Du kennst meine Antwort.«
»Er sagt, das sei ein Befehl.«
»Sag ihm, er kann mich am Arsch lecken.«
May warf einen Blick auf die Uhr. Es war fast zwölf. Martin hatte um drei einen Termin bei Teddy. Er hatte die beiden letzten Termine abgesagt und seit Beginn der Kortisonbehandlung waren fünfzehn Tage vergangen.
»Teddy hat angerufen. Sie sagt, sie muss dich dringend sehen, sonst …«
»Sonst was?«
»Sonst wird sich dein Zustand rapide verschlechtern.«
»Glaubst du wirklich, dass es noch schlimmer sein könnte?«
»Tu es für mich, wenn schon nicht für dich selbst. Du hast es mir versprochen.« Sie begann, seinen Rücken langsam und kreisförmig zu massieren.
»Ich will aber nicht.«
»Ich weiß«, flüsterte sie und küsste ihn auf die Schläfe. »Aber tu es trotzdem, für mich und Kylie. Deiner Familie zuliebe.«
*
Sie betraten die Bostoner Augenklinik, dieses Mal am Nachmittag. Martin hatte sich bei ihr untergehakt und sie lotste ihn unauffällig durch den Gang. Der Pförtner begrüßte ihn mit Namen, und einige Patienten und Ärzte starrten ihn sprachlos an, als sie ihn erkannten. Ein Junge bat um ein Autogramm und Martin kam der Bitte schweigend nach.
In Teddys Praxis angekommen, nahm May im Wartezimmer Platz, während Martin untersucht wurde. Teddy war herzlich und freute sich, sie zu sehen; sie machte Martin keine Vorhaltungen, weil er sich so lange Zeit gelassen hatte,
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