Was allein das Herz erkennt (German Edition)
des Raumes. Ein Gewand, das raschelnd über den Fußboden glitt, ein Tier, das im Vorübergehen den Tisch streifte. Er beugte sich vor, bereit, aufzuspringen. Er lauschte aufmerksam, vernahm aber nur seinen eigenen Herzschlag. Oder war das Thunders Schwanz, der dumpf auf den Boden schlug?
»Ist da jemand?«, rief er.
Thunder winselte. Es klang, als hätte er Angst, und er gab abermals Laut; Martin spürte, dass sich jemand im Raum befand.
»Wer ist da?«
»Schau mich an!«, sagte eine Stimme.
Er träumte von Geistern, eine andere Erklärung gab es nicht. Er schüttelte den Kopf. Er hatte die Stimme seit Jahren nicht gehört. Kylies Fähigkeit, von Toten zu träumen, schien auf ihn abgefärbt zu haben, und er lauschte angestrengt. Diese Stimme, leicht, voller Liebe und Freude. Er kannte sie wie keine andere, als sei sie nicht seit Jahren verstummt, als sei sein Kind nicht gestorben.
»Ich träume.« Er wünschte sich, nie mehr aufzuwachen.
»Tust du nicht«, flüsterte Natalie.
»Aber ich muss träumen; das kann doch nicht wirklich sein.«
»Ist es aber. Schau mich an.«
»Ich bin blind.«
»Daddy.«
»Ich kann dich nicht sehen. Nicht einmal in meinem Traum.«
Dann spürte er ihre Finger auf seinem Gesicht. Sie hatte ihn zu ihren Lebzeiten Hunderte von Malen berührt, hatte seine Nase oder Ohren gepackt, ihn gekitzelt oder war mit ihren kleinen Händen über seinen kratzigen Bart gefahren: Er hätte die Berührung überall wiedererkannt.
»Mach die Augen auf«, sagte sie.
Martin gehorchte, und er konnte sehen. Seine Tochter stand vor ihm, ganz in Weiß gekleidet, und blickte ihn an.
»Oh mein Liebes«, sagte er und spürte, wie Tränen in seine Augen traten.
Ihr Gewand glich einem Kleid, wie es Mädchen bei der Erstkommunion tragen, und sie hatte Flügel, die bei jeder Bewegung schimmerten. Ihr Gesicht strahlte vor Freude über das Wiedersehen. Die Arme nach ihm ausstreckend, trat sie näher.
»Wie konnte ich ohne dich leben?« Er wollte sie umarmen, aber sie wich zurück.
»Genauso wie ich ohne dich.«
»Ich vermisse dich so sehr«, flüsterte er mit brechender Stimme.
»Zu viel, denke ich.«
»Das ist unmöglich. Du bist mein Kind, das Liebste, was ich hatte. Mein Leben hat sich verändert an dem Tag, als ich dich verlor.«
»Daddy, es verändert sich jeden Tag. So ist das Leben. Eine Million Veränderungen, eine nach der anderen.«
Thunder bellte dumpf und trottete zu Natalie. Martin sah den Hund, dann das Mädchen an. Sie erwiderte seinen Blick, als sei sie im Stande, seine Gedanken zu lesen.
»Archie«, sagte sie.
»Ich hätte dir erlauben sollen, ihn zu behalten.« Seine Augen schwammen in Tränen. »Es war eine kleine Bitte und hätte dich glücklich gemacht. Ich bedaure es jeden Tag.«
»Aber du hast Kylie erlaubt, Thunder zu behalten. Das ist genauso, als hättest du mir Archie geschenkt, weißt du? Du hast uns eine zweite Chance gegeben.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich denke doch«, flüsterte sie, viel zu weise für ein kleines Mädchen.
»Ich habe dich mehr geliebt, als ich sagen kann.«
»Sag nicht ›habe‹, Daddy. Liebe stirbt nicht.«
»Ich hätte nie gedacht, dass ich dich jemals wieder sehe.«
»Ich musste es dir doch beweisen. Dass Liebe niemals stirbt.«
Sie streckte ihre Hand aus und er wollte sie ergreifen. Doch sie wich zurück. »Nicht, dann wäre alles zu Ende. Sobald ich deine Hand halte, kann ich nie mehr zurückkommen. Das wird meine letzte Nacht auf der Erde sein.« Ihre Worte ließen ihm das Herz frieren.
»Nein, Natalie« –, begann er. Aber er konnte nicht an sich halten. Er nahm die Hand seiner Tochter, genau wie früher, zu ihren Lebzeiten. Er schloss sie in seine Arme, konnte nicht glauben, dass es jemals zu Ende sein würde. »Sag mir, was ich tun soll. Natalie. Ich werde alles tun, was du verlangst.«
»Hol unsere Schlittschuhe und Handschuhe, Daddy. Bitte«, sagte sie und er hörte in ihren Worten seine eigenen und die seines Vaters vor ihm – Worte, die Kinder am Lac Vert seit Generationen zu ihren Eltern gesagt hatten. Und so ging Martin in den Windfang hinter der Küche und holte seine alten braunen und Kylies neue weiße Schlittschuhe, zog seine Handschuhe und eine Jacke an, die dort hing.
Sie traten in die kalte Nacht hinaus, Thunder auf ihren Fersen. Natalie führte ihn auf dem schneebedeckten Weg, direkt zum See hinunter. Sie hielten am Pavillon, um die Schlittschuhe anzuziehen. Ein Teil des Sees war blankes Eis, als ob Ray den
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