Was allein das Herz erkennt (German Edition)
alle unsere Lieblingsrosen gezüchtet.« Sie ging in die Hocke, nahm eine Gartenschere und schnitt eine pralle, perfekte Blüte ab.
»Wir?«
»Meine Großmutter, meine Mutter, meine Großtante, Kylie und ich.«
»Und wessen Lieblingssorte ist das?«
»Kylies.«
Er nickte, aber sie sah es nicht. Sie streifte die Blätter von der Blüte, eines nach dem anderen. Sie legte sie auf einen roh gezimmerten Holztisch, dann nahm sie zwei kleine Silbertabletts von einem Stapel, der sich auf einem hohen Regal befand. Sie entkorkte eine Flasche und träufelte ein paar Tropfen Öl auf eines der Tabletts. Martin roch das Öl, das die Vorstellung in ihm weckte, sich im Wald verirrt zu haben. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, an Radtouren auf überwucherten Bergpfaden, an verrottendes Laub, frisches Gras, Leben und Tod. Die Knochen rund um seine Augenhöhlen schmerzten, die Arthritis in seinem Knöchel machte ihm zu schaffen, und er konnte May atmen hören.
Sie arbeitete im Dunkeln, in dem purpurfarbenen Lampenschein der Pflanzenlichter und dem glitzernden Sternenlicht, das durch das Glasdach des Treibhauses fiel. Er trat näher, stand nun dicht hinter ihr, aber sie warf ihm einen tadelnden Blick über die Schulter zu.
» Pardon .«
»Ich muss mich konzentrieren. Ich brauche eine ruhige Hand.«
Sie nahm ein Instrument, das aussah wie eine Geburtszange aus Elfenbein, und hob das Blütenblatt auf, tauchte es vorsichtig in das Öl und legte es dann auf das zweite Tablett zum Trocknen. Martins Mutter war eine ausgezeichnete Hobbyfotografin gewesen, und May zuzuschauen erinnerte Martin an die Dunkelkammer und die Zange, mit der seine Mutter die Negative aus dem Wasserbad geholt und zum Trocknen auf die Leine gehängt hatte.
Irgendwo schlug es zehn und Martin warf einen Blick auf seine Uhr: noch neun Stunden, dann würde er im Flugzeug nach Edmonton sitzen. Die Fahrt nach Boston dauerte in seinem Porsche weniger als zwei Stunden, aber er sollte trotzdem längst zu Hause sein, wenn nicht gar im Bett, um sich die Trainingsvideos der Oilers anzuschauen. Was machte er hier in einem Treibhaus mit einer Frau, die Rosenblätter in Öl tauchte? Was hatte das alles mit Eishockey, mit dem Stanley Cup zu tun?
»Was bewirken sie? Ich meine, Ihre so genannten Glücksbringer. Wie funktionieren sie?«
»Das kann man nicht erklären, sie funktionieren einfach.« Sie fuhr mit ihrem Ritual fort.
»Es ist schon spät.« Seine Nervosität wurde zunehmend größer und er fragte sich langsam, auf was er sich da eingelassen hatte. »Ich glaube, dass sie wirken, das hat sich ja bereits gezeigt, aber –«
»Aber wie?«
»Ja. Das würde ich gerne wissen. Aber ich muss los, ich sollte längst unterwegs sein. Ich darf mein Flugzeug nicht verpassen –«
May öffnete eine quietschende Kommodenschublade und zog einen schmalen Lederbeutel heraus. Behutsam legte sie die weißen Rosenblätter und einen kleinen Ball aus Fell, Klauen und einen Splitter von einem Wirbelsäulenknochen hinein. »Eulen-Gewölle«, sagte sie lachend.
» Merci .« Sein Herz hämmerte, als hätte er sich bereits verspätet.
»Wie es funktioniert … Das ist einfach. Meine Großmutter hat diese Rose angepflanzt, ich habe sie gepflückt und sie ist Kylies Lieblingsrose. Die Eulenkugel soll Sie daran erinnern, dass das Leben kurz ist und dass Sie immer nach den Sternen greifen sollen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Der Lederbeutel ist … männlicher als Spitze. Damit Ihre Teamkameraden Sie nicht verspotten.« Sie lächelte und Martin versuchte zu lachen.
Sie standen nahe beieinander, die Wachstumslampen unter den Tischen warfen Schatten auf ihre Gesichter. Martin vergaß die Rosen, das Treibhaus, das Spiel, das morgen stattfinden würde, sein Team. Er riss May in seine Arme und küsste sie, fordernd und leidenschaftlich. Ihn schwindelte, als er sie an sich presste, er spürte, wie sie reagierte, wie sie seinen Kuss erwiderte.
»Was hast du gesagt?«, fragte er nach langer Zeit, als sie ihn immer noch umarmte und mit solcher Glut anblickte, dass er spürte, wie sein harter Kern zu schmelzen begann. Er kam sich wie ein Jüngling vor, der zum ersten Mal verliebt war, und nicht wie ein Mann, der schon tausend Frauen geküsst hatte.
»Was ich gesagt habe? Keine Ahnung«, flüsterte sie.
»Hast du etwas dagegen, wenn ich dich noch einmal küsse?«
»Eigentlich nicht.«
Dieses Mal lehnte er sich an die raue Werkbank aus Holz und schloss sie in seine Arme. Er spürte eine
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