Was allein das Herz erkennt (German Edition)
hing, und plötzlich war sie verlegen.
»Mögen Sie Scheunen?«, fragte sie, das Thema wechselnd.
»Ja. Ich bin auf einer Farm in Kanada aufgewachsen und dort gab es jede Menge davon. Mein Großvater flutete einmal eine Scheune, so dass wir im Winter die erste überdachte Eisbahn in der Provinz besaßen, zumindest in dem Teil, in dem ich aufwuchs. Wir hatten offenbar beide äußerst einfallsreiche Großeltern …«
»Haben Sie bei Ihrem Großvater gelebt?«
»Ja, mit meiner Mutter und Großeltern väterlicherseits. Nachdem uns mein Vater verlassen hatte.«
»Verlassen?«
»Um ins Profilager überzuwechseln. Er war ein fantastischer Eishockeyspieler. Mein leuchtendes Vorbild in der Zeit, als ich nur einen Wunsch hatte … Er brachte mir das Schlittschuhlaufen bei, noch bevor ich laufen konnte. Aber das ist lange her.«
»Lebt er noch?«
»Ja, aber wir haben keinen Kontakt mehr. Aber lassen wir das. Was ist mit Ihnen? Sind Sie bei Ihrer Großmutter aufgewachsen?«
»Ja. Meine Eltern starben, als ich zwölf war. Ein Autounfall, Frontalzusammenstoß mit einem Lastwagen. Mein Vater sah ihn nicht kommen; es ging so schnell. Das meinte meine Großmutter zumindest, und ich wollte es glauben …«
»Solche tragischen Unfälle passieren immer blitzschnell.« Martin legte tröstend seine Hand auf ihre, als er Tränen in ihren Augen sah. Er war bewegt. Augen, Mund und die zusammengepressten Kiefer spiegelten die Gefühle wider, die er tief in seinem Herzen empfand.
»Sie hatten keine Gelegenheit, ein wunderbares Mädchen aufwachsen zu sehen.« Er hielt ihre Hand.
»Danke, das sagt meine Freundin auch immer.«
»Ihre Freundin?«
»Tobin Chadwick. Wir waren schon als Kinder unzertrennlich und sie ist noch heute meine beste Freundin. Sie kannte meine Eltern gut; ich kann nicht erklären, warum mir das so viel bedeutet.«
»Müssen Sie auch nicht. Ich habe auch einen solchen Freund, Ray Gardner. Er ist wie ein Bruder für mich, war es immer. Er kennt mich in- und auswendig. Wir verstehen uns auch ohne Worte. Außerdem sind wir im gleichen Team.«
May berührte ihr Wasserglas, spürte die eisigen Tropfen an ihrer Hand. Sie sah den Schatten, der über seine Augen fiel, die Dunkelheit, die ihr schon bei der ersten Begegnung aufgefallen war.
»Ich habe meine Tochter verloren und Sie Ihren Vater. Ich weiß, was Verluste bedeuten.«
»Bei mir können Sie sich aussprechen, wenn Sie möchten«, erwiderte May und beobachtete seine Augen.
»Ja, ich habe das Gefühl, das könnte ich.«
May wartete.
»Manche Dinge sind vorbestimmt, davon bin ich überzeugt«, wiederholte er mit Nachdruck die Worte, die er am Vorabend während des Telefongesprächs gesagt hatte.
Ihre Hände zitterten und sie schwieg.
»Da war eine Verbindung, die ich nicht erklären kann. Ich blickte mich um und sah Sie. Und dann kam Ihre Tochter zu mir, sprach mich an. Sie wusste von Natalie.«
»Natalie?«
»Meine Tochter.«
»Kylie hat eine ungemein lebhafte Fantasie.« May wollte nicht, dass er auf falsche Gedanken kam. »Sie ist außerordentlich feinfühlig, spürt solche Dinge. Vielleicht hat sie zufällig gehört, wie Sie sich über Natalie unterhalten haben.«
»Ich spreche nie über sie.«
»Oder sie hat mitbekommen, wie Sie ein Bild …«
Martin zog seine Brieftasche heraus. Er legte ein Farbfoto auf den Tisch, einen Schnappschuss von einem kleinen Mädchen mit strahlendem Lächeln, Lockenkopf und Zahnlücke.
»Haben Sie das Foto im Flugzeug herausgeholt? Und wenn auch nur für eine Sekunde?«
»Jemand hat mir eine Visitenkarte gegeben«, erwiderte Martin stirnrunzelnd. »Möglich, dass ich sie in meine Brieftasche gesteckt habe.«
»Kylie hat bestimmt Natalies Foto gesehen.« May betrachtete das Gesicht des Mädchens. »Sie ist hübsch.«
» Merci bien .«
»Ich möchte Sie nicht enttäuschen, aber denken Sie nicht, Kylie stünde irgendwie in Verbindung mit Ihrer Tochter, auch wenn sie sehr sensibel ist und Dinge wahrnimmt, die andere nicht sehen. Ich war mit ihr bei Psychologen in Toronto. Wegen eines Traumas, wissen Sie. Bei einer Wanderung in einem Naturpark fanden wir beide eine Leiche.«
»Eine Leiche?«
»Ein Mann, der sich erhängt hatte. Sie ist ziemlich neugierig, was den Tod betrifft«, fügte May hinzu.
»Sie wusste, dass unser Flugzeug notlanden würde. Sie bat mich, Ihnen zu helfen.«
Die Bedienung kam, um den Tisch abzuräumen. Mays Herz hämmerte so laut, dass sie befürchtete, Martin und die Bedienung könnten
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