Was allein das Herz erkennt (German Edition)
es hören. Aus Gründen, die niemand verstand, sah ihre Tochter Engel. Wie hätte sie ihm auch eine andere, schlüssige Erklärung geben können: dass Kylie nichts von dem drohenden Absturz gewusst, sondern nur nach einer geeigneten Vaterfigur Ausschau gehalten hatte, dass sie sich zeitlebens nach einem Vater gesehnt hatte und es May nie gelungen war, ihr diesen Wunsch zu erfüllen?
»Ich glaube, Sie haben ihr einfach von der Statur her gefallen. Sie sind der ideale Gepäckträger.«
Martin lachte. Er blickte noch einmal das Bild seiner Tochter an, dann steckte er es in die Brieftasche zurück. »Ihr Gepäck zu tragen wäre leichter gewesen. Die Frage ist nur, hätten Sie mir dann trotzdem die Rosenblätter geschenkt?«
»Ich denke schon.« May war froh, dass sie nicht mehr über Kylie reden musste.
»Sie haben mir Glück gebracht, Ihre Rosenblätter. Ich wollte Ihnen danken, aber Sie auch um einen Gefallen bitten.« Er grinste, als mache er Spaß, aber sie sah, dass es ihm völlig ernst war. May versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie war aufgewühlt, durch seine Nähe und den Wirrwarr der Gefühle, der in ihrem Innern herrschte. Es kam ihr vor, als stünde sie am Rande eines Abgrunds: Sie hatte keine Ahnung, was sie sehen würde, wenn sie sich weiter nach vorne beugte.
»Und der wäre?«, fragte sie ruhig.
»Ich brauche noch ein paar Glücksbringer. Aber bitte, verraten Sie mich nicht bei meinem Team, dann wäre ich blitzschnell auf der Reservebank … aber ich bin der älteste Spieler in der NHL und das könnte meine letzte Chance sein, den Stanley Cup zu holen. Ein verrückter Aberglaube, ich weiß.«
»Aberglaube?« May lachte. »Ich arbeite in einer Branche, in der etwas Altes, etwas Neues, etwas Geborgtes und etwas Blaues zur Standardausstattung einer Braut gehört. Ich habe mit Ärzten zu tun, die das Übersinnliche erforschen. Ein paar Rosenblätter sind in meinen Augen alles andere als seltsam.«
»Dann bekomme ich also meine Rosenblätter?«
»Ja. Ich habe noch einen kleinen Vorrat in der Scheune, sie müssen nur noch präpariert werden. Ich gebe Sie Ihnen, wenn Sie mich nach Hause bringen.«
» D’accord«, sagte er. »Wir sind im Geschäft.«
*
Eine Stunde später, nach der langen Rückfahrt, folgte ihr Martin in die alte Scheune. Es roch betörend, nach Heu, Lavendel, Geißblatt und Rosen. Er hatte geglaubt, der Duft sei typisch ländlich, aber als May abrupt stehen blieb, merkte er, dass er von ihrem Nacken ausging. Sie ging ihm voran durch die Dunkelheit, während der unheimliche Ruf der Eulen und Ziegenmelker in den Dachsparren über ihnen ertönte.
»Erschrecken die Eulen Ihre Bräute nicht?«, fragte er.
»Die geben tagsüber keinen Laut von sich. Und die Bräute schauen nur selten nach oben. Manchmal finde ich Fell, Muscheln und Knochen auf dem Boden, und daraus mache ich kleine Glücksamulette für die Bräute.«
»Aus dem Gewölle? Das sind doch unverdaute und herausgewürgte Nahrungsreste. Sehr romantisch, non ?«
»Ich schenke Ihnen eines.« May öffnete eine schwere Glastür und führte ihn in ein dunkles, feuchtes Treibhaus. Lampen, die das Wachstum der Pflanzen beschleunigten, warfen ihr gedämpftes Licht auf die Reihen der Schösslinge. »Als Glücksbringer.«
Martin bemühte sich, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Er war nicht gerade für seine Einfühlsamkeit im Umgang mit anderen bekannt, und schon gar nicht, wenn es sich um Frauen handelte, aber als er vorhin über seine Mutter und seinen Großvater gesprochen hatte, war etwas in ihm erwacht, das er längst vergessen zu haben glaubte – ein Teil von ihm wusste um die Gefühle anderer Menschen und wollte sie nicht verletzen. Dann war die Unterhaltung in eine Richtung abgeglitten, die zu nahe an Natalie heranreichte, und Martin hatte gespürt, wie er wieder erstarrte.
Aber dieses Mal war es anders: er hatte das Bedürfnis, May mehr zu erzählen. Er wusste intuitiv, dass er ihr vertrauen und ihr auch in Zukunft noch Dinge erzählen konnte, die ihn bewegten. Während er neben ihr ging, fragte er sich, ob sie die Fähigkeit besaß, Gedanken zu lesen. Vielleicht lag die Hellsichtigkeit, oder wie immer man es nennen wollte, in ihrer Familie.
»Das hier sind unsere Treibhaus-Rosen.« May stand zwischen den Blumentöpfen. »Wir haben draußen einen wundervollen Garten, aber er blüht nicht vor Juni. Meine Großmutter war eine begnadete Gärtnerin. Sie experimentierte mit verschiedenen Sorten und wir haben
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