Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Coach.«
»Wie gut wir wirklich sind, werden wir heute Abend herausfinden. Ich habe dich während der Playoffs genau beobachtet. Das war dir sicher klar. Es hat mir nicht gefallen, dass du damals zum kritischen Zeitpunkt das Training geschwänzt hast …«
»Ich habe Ihnen doch gesagt« –, begann Martin, aber der Coach unterbrach ihn.
»Der Grund spielt keine Rolle. Tatsache ist, du bist nicht zum Training erschienen und hast dich in drei Spielen hintereinander nicht richtig konzentriert. Damit wir gewinnen, brauchen wir dich in der Verteidigung und im Sturm, in genau dieser Kombination, und darüber hinaus sollst du als Teamkapitän die Mannschaft führen. Es gibt nichts daran zu rütteln: du bist die Nummer eins, und wenn du abgelenkt bist, sind die anderen es auch. Wo immer du damals auch gesteckt haben magst, bei den Spielen warst du nicht bei der Sache.«
Martin senkte den Blick. Während der Qualifikationsrunden der Playoffs in New York hatte er sich einen Leihwagen genommen und war nach Norden gefahren. Das Land war weiß nach einem unverhofften Eissturm im Frühjahr und die mit Apfelblüten beladenen Zweige waren mit Schnee bedeckt. Die Spiralen aus Stacheldraht glänzten silbern im fahlen Sonnenlicht, und die Backsteinmauern des Gefängnisses waren unter der Eisschicht geschwärzt. Tief im Inneren saß Martins Vater, ein Mann, der Schlittschuh laufen konnte wie der Wind, der drei Mal den Stanley Cup gewonnen und mit dem Martin seit sieben Jahren kein Wort mehr gewechselt hatte.
Martin hatte im Wagen gesessen und das Gefängnis angestarrt. Er war von Manhattan aus nach Norden gefahren, um etwas von der Größe und dem Ruhm seines Vaters zu spüren, hatte reglos draußen gesessen und versucht, alles an Inspiration aufzunehmen, was durch die dicken Mauern drang. Er hatte sich einen zündenden Funken gewünscht, um das Feuer des Kampfes, das fortwährend in ihm brannte, zusätzlich zu entfachen. Aber zum ersten Mal hatte Martin nichts gespürt, und seitdem nie wieder.
In den Qualifikationsrunden, die folgten, als die Rangers die Bruins bezwangen, hatte sich Martin innerlich wie tot gefühlt; das Feuer war erloschen. Nach dem Rückstand von 3:0 war Martin abermals zu dem Gefängnis in Estonia gefahren. Dieses Mal hatte er sich vorgenommen, hineinzugehen, den alten Mann zu besuchen und den alten Zwist zu begraben. Schnee und Eis waren geschmolzen, aber Martin hatte an derselben Stelle vor den Toren des Gefängnisses gesessen, dessen Backsteinmauern in der Sonne nun rot waren und nicht mehr vor Nässe schwarz glänzten.
»Wie dem auch sei, du hast wieder Biss seit dem Spiel in Boston«, sagte der Coach gerade. »Was immer in New York und Toronto passiert sein mag, beim Heimspiel hast du es wettgemacht.«
Martin nickte mit ausdruckloser Miene. Er hatte May kennen gelernt, das war passiert. Er hatte sie im Flugzeug gerettet und sich in sie verliebt. Er hielt den Lederbeutel in der linken Hand. Er hatte von einer Fremden bekommen, was er bei seinem Vater vergebens gesucht hatte. Inspiration, innere Verbundenheit, das Gefühl von höherer Macht, Liebe auf den ersten Blick – der zusätzliche Biss. Sein Herz klopfte, wenn er nur daran dachte.
»Vier Tage Ruhe und vierzehn Jahre Ruhelosigkeit«, sagte der Coach, die Hand auf Martins Schulter. »Du willst den Stanley Cup gewinnen. Es ist höchste Zeit.«
»Ja.« Martins Kehle wurde eng, er spürte, wie sich wieder die eisigen Winde der Tundra in ihm ausbreiteten. Nicht einmal die Liebe zu May konnte sie aufhalten.
»Nils Jorgensen will dich festnageln.«
»Ich weiß.« Martin sah den Torhüter der Oilers vor sich, einen seiner wirklichen Feinde in der NHL, dem er die Schädelfraktur und die zerschmetterte linke Augenhöhle vor drei Jahren zu verdanken hatte.
»Für ihn ist das eine persönliche Sache«, sagte der Coach.
»Das ist sie auch«, murmelte Martin.
»Dein Vater wird zuschauen, das weißt du.«
»Vermutlich.«
»Und deine Mutter auch.«
Martin senkte den Kopf. Er wollte sich nicht einmal selbst eingestehen, wie sehr er sich diesen Sieg wünschte. Eishockey war sein ein und alles gewesen, ein Teil von ihm, wie sein eigener Herzschlag. Seine Eltern hatten ihn bis zu diesem Punkt in seinem Leben gebracht, aber sein Vater saß im Gefängnis und seine Mutter war tot. Das war eine Seite von ihm, die May vermutlich nie verstehen würde, und Martin war sich nicht einmal sicher, ob er das überhaupt wollte.
»Ich glaube an den Himmel«, sagte
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