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Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Titel: Was allein das Herz erkennt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Jahr, als Emily Dunne die Scheune errichten ließ. Er wäre um ein Haar noch im selben Jahr dem Frost zum Opfer gefallen, aber Emily und Enid hatten ihn gerettet, indem sie ihn in eine Flickendecke wickelten, die sie aus den alten Hemden ihres Vaters zusammengenäht hatten. Abigail hatte den Strauch liebevoll mit Rosendünger aufgepäppelt.
    »Der braucht eine Extraportion Kaffee«, sagte Tante Enid nun, die gerade herübergekommen war, um zu sehen, was May tat.
    »Reicht das?« May verstreute eine halbe Tasse.
    »Die doppelte Menge.« Tante Enids Hand zitterte nach einem leichten Schlaganfall, und als sie sie austreckte, musste sie sich auf Mays Schulter stützen, um das Gleichgewicht zu halten. Mays Großmutter hatte behauptet, dass Rosensträucher höher und voller, die Farben der Blüten leuchtender werden, wenn sie mit frisch gemahlenem Kaffeesatz gedüngt wurden. Der Geruch von Lehmboden und Weißbrot, in Ei gewendet und in Öl ausgebraten, vermischten sich in der lauen Luft, was bewirkte, dass May ihre Mutter mehr denn je vermisste. Sie hatte vermutlich geseufzt, denn Tante Enid blickte zu ihr herüber.
    »Was ist los, Liebes?«
    »Nichts, Tante Enid.«
    »Ich glaube dir kein Wort.« Als Tobin kam, flüsterte sie ihr zu: »Schau doch mal, ob du deine Freundin aufmuntern kannst.«
    »Ich werde es versuchen, Enid«, versprach Tobin und legte den Arm um die alte Frau.
    Tante Enid war früher einen Meter fünfundsechzig groß gewesen, aber das Alter hatte ihr Rückgrat verkrümmt und sie um zehn Zentimeter schrumpfen lassen. Sie hatte kurz geschnittene weiße Haare und blassblaue Augen, und sie trug ihre bevorzugte Kleidung für Gartenarbeit: ein rosafarbenes Hauskleid, eine alte Segeltuchjacke und kniehohe Gummistiefel, die ihrer Schwester gehört hatten.
    »Ach Liebes«, seufzte Tante Enid. »Ist es der Hockeyspieler?«
    »Der wer?«, fragte May.
    »Ins Schwarze getroffen«, meinte Tobin.
    »Kylie hat mir erzählt, dass er mehrmals angerufen hat, und dann –« Tante Enid biss sich auf die Zunge.
    »Kylie hing an ihm«, murmelte May.
    »Aha, das ist also der Grund«, erklärte Tobin.
    Tante Enid griff in den Topf mit dem alten Kaffeesatz und ließ ihn wieder und wieder zwischen ihren knochigen Fingern hindurchrieseln. Dann verteilte sie das Kaffeemehl sorgfältig um die Wurzeln der alten weißen Rose.
    »Einen Menschen zu vermissen ist eine merkwürdige Sache«, überlegte Tante Enid laut. »Es überkommt einen einfach so. Man kann nie genau sagen, wo es anfängt und wo es endet.«
    »Sie bestimmt nicht«, bestätigte Tobin und May spürte, wie sich der Blick ihrer Freundin in ihren Hinterkopf bohrte.
    »Hört ihr beide bitte auf?«, sagte May. »Page Greenleigh kommt gleich mit ihrer Mutter. Ich muss los und mich frisch machen.«
    »Du könntest ihn anrufen«, schlug Tante Enid vor.
    »Prima Idee«, stimmte Tobin ihr zu.
    May blickt durch den Rosenstrauch hindurch auf ihre Tante. Der Vorschlag war die reinste Ketzerei im Hinblick auf die Philosophie, die Bridal Barn vertrat: Emily Dunne hatte behauptet, die größte Angst eines Mannes bestünde stets darin, festgenagelt, ›eingefangen‹ zu werden, wie sie es zu nennen pflegte. In ihrem berühmten Brevier der »Gebote und Verbote« für eine Frau, die etwas auf sich hält, führte der Anruf bei einem Mann die Liste der Tabus an.
    »Männer können auch leiden«, fuhr Tante Enid fort, als hätte sie Mays Gedanken gelesen. »Er hat die Meisterschaft verloren. Vielleicht braucht er jemanden, mit dem er reden kann.«
    »Klingt ganz plausibel, finde ich«, sagte Tobin.
    »Und was ist mit den Männern, die Zeit für sich brauchen, um ihre Wunden zu lecken?«
    »Irgendwann muss damit aber Schluss sein.«
    »Er weiß, dass er jederzeit anrufen kann«, sagte May.
    »Mir ist nie aufgefallen, dass du zu stolz für so etwas bist.« Tante Enid hob einen Japankäfer von einem glänzenden Blatt, hielt ihn behutsam in der Handfläche und ließ ihn auf einem Beet frei, auf dem keine Rosen wuchsen. »Aber wie mir scheint, sind dir deine eigenen Gefühle wichtiger als jemand, der gerade jetzt deine Hilfe brauchen könnte.«
    »Tante Enid hat Recht.«
    May antwortete nicht. Sie entdeckte einen zweiten Käfer: sein Panzer wirkte stumpf wie das Abbild eines nebligen Regenbogens in einer schillernden Öllache. Sie hob ihn vom Stiel der Rose und schnippte mit dem Fingernagel gegen den harten Panzer, der nicht größer als ein Kirschkern war. Mays eigener, innerer Panzer fühlte sich

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