Was allein das Herz erkennt (German Edition)
nicht, wie lange ich noch brauche. Also dann, bis später. Hat mich gefreut, dich wieder zu sehen, Genny.«
»Ganz meinerseits.«
Als sie die Leiter zum Heuboden hinaufstiegen, tippte Genny May auf die Schulter.
»Alles in Ordnung mit Tobin?«
»Ich denke schon.« Aber May spürte eine gewisse Distanz auf Tobins Seite. Tobin und May waren immer eifersüchtig auf Außenstehende gewesen, auf andere Frauen, die eine Bedrohung für ihre Freundschaft zu sein schienen. Doch darüber hinaus veränderte sich ihre Beziehung auch auf andere Weise, und sie wussten es beide.
»Es ist eine ziemlich große Umstellung für sie, ihre alte Freundin plötzlich im Fernsehen und in den Zeitschriften zu sehen.«
»Für mich ist es das auch.«
»Die NHL wirkt auf Außenstehende glamourös. Wenn die wüssten!«, sagte Genny.
»Das kann ich noch nicht beurteilen. Martin ist die Hälfte der Zeit weg, und während der restlichen Zeit kuriert er seine Verletzungen aus. Wir hatten kaum Gelegenheit, uns besser kennen zu lernen.«
»Manchmal kann man in einer Ehe einsamer sein, als wenn man unverheiratet ist«, seufzte Genny. »Man liebt jemanden, aber man bekommt ihn viel zu selten zu Gesicht. Und wenn er zu Hause ist, kreisen seine Gedanken ständig um das letzte oder das nächste Spiel.«
»Du sagst es.« May war froh darüber, dass sie Genny hatte und sich mit ihr austauschen konnte, aber gleichzeitig hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie Tobin damit ausschloss.
Sie schlenderten über den Heuboden, der voll war mit alten Hochzeitsgewändern, die von den niedrigen Dachsparren hingen. Organza, Taft, Seide und Satin knisterten, als sie die Stoffe bei ihrem Rundgang streiften. Manche waren beinahe Museumsstücke, aber weiter hinten befanden sich Brautkleider neueren Stils und eine Kollektion von Kleidern für die Brautjungfern. Wie zu Emilys Zeiten wurden sie auf dem Heuboden eingelagert und nur ein einziges Mal im Jahr im Rahmen einer Modenschau vorgeführt. Aber May wollte sie Genny zeigen.
»Oh, Genny, das ist aber ein Überraschung! Wir haben uns seit der Hochzeit nicht mehr gesehen.« Tante Enid kam herbei, als sie die Leiter herunterkletterten, und umarmte Genny. »Willkommen im Bridal Barn. Wie geht es dir? Was machen Ray und die Kinder?«
»Alles bestens, Enid.« Genny erwiderte die Umarmung. »Bei uns dreht sich im Moment alles um die Eishockeysaison, genau wie bei May.«
»Ich wollte gerade Tee kochen, bevor die Kundinnen eintrudeln, die für drei Uhr bestellt sind. Trinkst du eine Tasse mit, Tante Enid?«
»Nein, danke, aber macht ihr nur ohne mich, Mädels. Ich muss die Post erledigen und es mir mit dem Heizkörper warm machen, dabei haben wir erst November. Schaut euch nur meinen Aufzug an – ich hoffe, dass ich die Bräute nicht abschrecke.«
Tante Enid erkältete sich leicht und trug ihre übliche Herbst-Winter-Kleidung: Hosen aus Schurwolle und einen dicken Rollkragenpullover unter einer grauen Flanelljacke. Als May ihre eigenen zerknitterten Jeans und abgewetzten Stiefel ansah, musste sie lächeln: Es war ein Wunder, dass Bräute, die Wert auf eine stilvolle Hochzeit legten, sich auch nur in die Nähe von Bridal Barn wagten.
»Bei uns geht es ziemlich zwanglos zu«, sagte May, als sie mit Genny den kleinen Raum hinter der Scheune betrat.
»Das mögen deine Kundinnen, möchte ich wetten. Du hast so eine lässige, natürliche Eleganz.«
»Danke für das Kompliment, aber nachlässig wäre zutreffender.« May zupfte an dem ausgefransten Ärmel ihrer Segeltuchjacke.
»Nein, du bist natürlich und elegant . Wie eine Schönheit vom Lande mit einem großen Geheimnis. Martin hat Ray erzählt, dass ihn dein Lächeln an die Mona Lisa erinnert.«
»Das soll wohl ein Witz sein.« May stellte den Teekessel auf den Ofen.
»Nein. Am Lac Vert, gleich zu Beginn.«
»Mona Lisa ist so rätselhaft. Das bin ich nicht.«
»Glaubst du!« Genny musterte sie. »Du siehst so … wie soll ich sagen, ›wissend‹ aus. Weise und reif für dein Alter. Aber es gibt kaum jemanden, der sich so sieht, wie andere ihn sehen.«
May dachte über Gennys Worte nach, während sie den Tisch deckte. Von einem Kiefernregal nahm sie eine hauchdünne Porzellankanne mit Hundertblättrigen Rosen und zwei Tassen, die mit Veilchen und blauen Schmuckbändern dekoriert waren. Sie stellte einen Teller mit Zwieback und den Rest von Gennys Apfelgelee auf den Tisch.
Während sie Tee tranken, zeigte May Genny das berühmte Sammelalbum ihrer
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