Was allein das Herz erkennt (German Edition)
»Ich bin in erster Linie Ray Gardners Frau. Mrs. Rechter Flügel bei den Boston Bruins. Ich liebe meinen Mann, ich habe ein sorgenfreies Leben. Ich beschwere mich nicht – ich möchte das alles nicht missen.«
»Und ich bin jetzt Mrs. Goldener Vorschlaghammer.«
Genny schüttelte den Kopf. »Du bist mehr als das. Das sieht man auf den ersten Blick. Kein einziger Groupie ist jemals zur Box gekommen, um mir eine Karte mit einem Glückwunsch oder netten Gruß zu überreichen …«
»Das würden sie bestimmt, wenn sie dein sagenhaftes Apfelgelee probieren könnten. Und deine Erdbeermarmelade. Oder wenn sie wüssten, was für ein wunderbarer Mensch du bist.«
Genny lachte. Die Spieler liefen sich warm, die Atmosphäre war aufgeheizt und die Zuschauer standen unter Hochspannung. Als Genny ihre Aufmerksamkeit auf die neutrale Zone in der Mitte der Eisfläche richtete, wo die Mannschaften jetzt zu beiden Seiten der roten Mittellinie Aufstellung nahmen, musterte May sie verstohlen.
Es war schön, jemanden zu haben, mit dem man das Interesse am Eishockey teilte. Es war für May eine neue und ganz besondere Erfahrung, und Genny schien Spaß daran zu haben, sie in die Feinheiten des Spiels einzuweihen. Doch gleichzeitig hatte May ein schlechtes Gewissen, weil sie spürte, dass sie sich zunehmend von Tobin entfernte. Ihr Leben änderte sich mit Lichtgeschwindigkeit und sie hatte keine Ahnung, wie sie alles unter einen Hut bringen sollte.
»Hättest du Lust, diese Woche auf einen Sprung vorbeizukommen?«, fragte May. »Ich meine, im Bridal Barn? Ich würde dir gerne alles zeigen, und vielleicht kann ich dich ja überreden, uns zu beliefern. Deine Produkte würden gut in unser Sortiment passen. Außerdem würden meine Tante und Tobin dich gerne wiedersehen.«
»Im Bridal Barn? Ja, gerne!« Genny strahlte, gerade als die beiden Mannschaften für den Einwurf bereit waren.
»Gut.« May wandte sich wieder dem Eis zu.
Ein Horn erklang, der Puck fiel und mit dem Anpfiff begann das letzte Drittel des Spiels. Boston erwischte die Scheibe, Ray spielte sie Martin zu und peng – Martin erzielte seinen nächsten Hattrick. May schrie sich die Seele aus dem Leib, als Martin an der Box vorbeifuhr und einen dicken Kuss auf die Plexiglasscheibe pflanzte.
Der Kussmund wurde während der restlichen Spielzeit immer wieder erneuert. Martin schoss ohne Unterlass, erzielte auch das vierte und fünfte Tor. Auf dem Scoreboard flammten Martins Name nebst den technischen Einzelheiten auf, und – zu Mays grenzenloser Verblüffung – Hochzeitsglocken! Und dann, mitten im letzten Drittel, als nur noch sechs Minuten zu spielen waren, leuchteten die beiden Worte MAY! MAY! auf der elektronischen Tafel auf.
»Hör doch!« Genny packte Mays Arm, als die Zuschauer die Anregung aufgriffen und Sprechchöre anstimmten:
»May! May!«
»Oh nein!« May lachte und wurde rot, als der Tumult immer lauter wurde. Sie zog den Kopf ein, aber die Menge skandierte immer wieder ihren Namen »May, May Cartier …«
»Du hast ihre Herzen im Sturm gewonnen«, sagte Genny.
»Ich kann es nicht glauben … nach all den Beschimpfungen, die ich mir letzten Monat anhören musste.« May hoffte inständig, dass Tobin vor dem Fernseher saß und zuschaute.
Die Menge hielt nichts mehr auf den Bänken, als Martin das unglaubliche sechste Tor schoss, das die Zuschauer mit tosendem Gebrüll quittierten.
»Unfassbar!«, keuchte Genny.
Dieses Mal verbeugte sich Martin, als er an der Box vorbeiglitt, und May verneigte sich ebenfalls, während Genny ihre Hand hielt und sie im wirklichen und brandheißen Leben einer NHL-Spielerfrau willkommen hieß. Tief bewegt dachte sie an ihre Eltern, was sie empfinden würden, wenn sie ihre Tochter jetzt sehen könnten. Und sie fragte sich, wenn auch nur einen Augenblick lang, was Serge jetzt tun mochte: ob er die Möglichkeit hatte, das Spiel im Gefängnis anzuschauen, ob er stolz auf seinen Sohn war.
May blickte auf das Eis, bemüht, sich auf die letzten Minuten des Spiels zu konzentrieren, aber ihre Augen kehrten immer wieder zu den Lippenabdrücken ihres Mannes auf der alten, zerkratzten Plexiglasscheibe zurück. Sie wünschte sich, dass alles, was sie in diesem Augenblick besaß – das Vertraute und das Neue – für immer andauern möge.
12
D er Tag war kalt und bewölkt, Dächer und Felder waren mit einer feinen Schneeschicht bestäubt. May, in alten Lederstiefeln und Daunenjacke, machte mit Genny einen Rundgang über das
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