Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Serge machte ein strenges Gesicht, aber er konnte nicht verhindern, dass seine Mundwinkel zuckten. »Kalt draußen, Mann«, sagte der junge Bursche.
»Wenn man ein Weichei ist, schon.«
»Ich bin kein Weichei.«
»Wirst du aber, wenn du so weiterqualmst.«
»Aaaah.« Der Bursche zog abermals, dann verbarg er die Zigarette hinter seinem Oberschenkel, als ob er beschämt wäre.
»Wie alt bist du?«, fragte Serge.
»Vierundzwanzig.«
»Hat dich dein Vater nie beim Rauchen erwischt und dir die Hölle heiß gemacht?« Serge war inzwischen nicht mehr über das Alter der jungen Männer schockiert, die hier eine Haftstrafe verbüßten.
Der Bursche blies den Rauch durch die Nase und grinste schief. »Was für ein Vater? Er ist abgehauen, bevor ich zur Welt kam. Bis später, Serge. Ich bin kein Weichei, aber mir ist saukalt. Abgesehen davon kommen meine Kinder zu Besuch. Muss mich in Schale werfen.«
Serge sah dem jungen Mann nach, der in seine Zelle zurückging. Der Gefängnishof kam ihm plötzlich leer vor; er fühlte, dass die Einsamkeit wie eine Welle über ihm zusammenschlug. Der Winter weckte immer solche sentimentalen Gefühle in ihm. Schon bevor er ins Gefängnis gekommen war. Wenn es draußen schneite und stürmte, brauchten die Menschen die Geborgenheit der Familie.
»Mein Sohn kommt mich bald besuchen«, sagte Serge zu der Tür, durch die der junge Mann gerade verschwunden war. Er klopfte auf seine Hosentasche, wo er das Bild von Martin, May und Kylie aufbewahrte, das Hochzeitsfoto, das die Zeitungen vor Beginn der Saison gebracht hatten.
Ein Pfeife ertönte und kündigte den Beginn der Besuchszeit an. Serge schenkte ihr keine Beachtung, blieb draußen in der Kälte. Hier fühlte er sich wenigstens ein bisschen lebendig. Er schloss die Augen, stellte sich seinen See vor: in die Bergmulde geschmiegt, das gefrorene Eis von einer Schwärze, wie man sie bei keinem anderen See in Kanada fand. Er hatte Martin auf diesem See Schlittschuhlaufen beigebracht. Sie hatten davon geträumt, eines Tages im gleichen Team zu spielen. Große Träume, und Serge hatte versprochen, sie wahr zu machen.
»Wenn ich meinen Jungen beim Rauchen erwischt hätte«, sagte Serge laut, »dann hätte ich ihm das schon ausgetrieben.« Das war es, was man von verantwortungsbewussten Vätern erwartete: dass sie ihren Kindern halfen, das Richtige zu tun, das, was für sie am Besten war.
»Serge!« Jim rief nach ihm. »Ist dir immer noch nicht kalt?«
»Wir laufen Schlittschuh, mein Sohn und ich«, sagte Serge mit offenen Augen und sah immer noch den schwarzen See vor sich.
Er wusste, dass es verrückt war, in der Kälte zu bleiben, während es drinnen wärmer war und es obendrein bald etwas zu essen geben würde. Aber hier bekam er frische Luft, dieselbe Luft, die Martin irgendwo einatmete. Falls Martin ihn jemals besuchen sollte, würde er durch das große Tor auf der Ostseite kommen. Serge wandte den Blick in die Richtung.
Durch dieses Tor würde er kommen.
Serge schloss erneut die Augen. Der See mit dem schwarzen Eis war verschwunden, aber er stellte sich vor, wie Martin durch das Tor kam. Mit seiner Frau und dem kleinen Mädchen.
Serge ging hinein, den langen Weg zu seiner Zelle zurück. Vor dem Besucherraum hielt er eine Weile inne, lauschte den Stimmen der Frauen und Kinder. Sie zogen ihn an wie ein Magnet, fast direkt durch die Tür.
Tino saß an einem langen Tisch. Eine zierliche dunkelhaarige Frau beugte sich zu ihm herüber und ein kleines Kind saß auf seinen Knien, kletterte an ihm hoch, während sich ein zweites an ihn schmiegte, so eng, als wollte es nach der schrecklichen Trennung in ihn hineinkriechen.
Tinos Augen glänzten, er lächelte, und so etwas wie Freude breitete sich auf seinem Gesicht aus. Der kleine Junge hatte sein Lachen, seine Statur. Serge hielt den Atem an, während er beobachtete, wie der Junge seinen Vater an den Ohren packte und ihn mitten ins Gesicht küsste.
Serge wusste, welche Gefühle mit solchen Trennungen einhergingen, dass die Bindung zwischen Vater und Sohn und das Verlangen danach bei beiden nicht weniger ausgeprägt waren. Serge machte auf dem Absatz kehrt und entfernte sich hastig.
*
May bekam neuerdings eigene Fanpost. Sie war erstaunt, aber Frauen in ganz Amerika und Kanada waren fasziniert von ihrer Liebesgeschichte und von der Tatsache, dass sie als Hochzeitsplanerin erst so spät geheiratet hatte. »Das macht mir Hoffnung, dass ich vielleicht auch noch jemanden finde, der zu
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