Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Er gestand mir einmal, er wünsche sich, Martin hätte ein Mädchen wie mich kennen gelernt. Eine Frau, die ihn um seiner selbst willen liebt. Er wäre sehr glücklich, wenn er wüsste, dass Martin dich gefunden hat.«
May hörte schweigend zu.
»Es ist traurig«, fügte Genny nachdenklich hinzu. »Ich weiß, dass Serge einiges auf dem Kerbholz hat. Aber auf seine Weise hat er Martin geliebt. Du hättest seinen Blick sehen sollen, wenn Martin auf dem Eis war – voller Stolz.«
»Ich würde ihn gerne kennen lernen.«
»Vergiss es. Dazu hasst Martin ihn viel zu sehr.«
»Ich dachte auch einmal, dass ich meinen Vater hasse. An dem Tag, als er starb.«
»Das tut mir Leid.«
»Die Umstände waren allerdings ganz anders. Ich war erst zwölf. Wenn er bei dem Unfall nicht ums Leben gekommen wäre, hätte ich den Streit bestimmt schnell wieder vergessen. Aber er starb.« May erinnerte sich, was Dr. Whitpen über den Schleier gesagt hatte, der die Lebenden von den Toten trennt.
»Das ist lange her.«
»Manchmal kommt es mir vor, als sei es erst gestern gewesen. Ich wünschte, diese Auseinandersetzung stünde nicht zwischen uns. Mein ganzes Leben lang hatte ich das Gefühl, die Situation bereinigen zu müssen. Ich wünschte, ich könnte die Uhr zurückdrehen, das Ganze ungeschehen machen.«
»Ich kann mir nicht einmal vorstellen, so etwas durchzumachen.« Genny berührte Mays Schulter.
May nickte, sie dachte an Tobin, die an ihrem Schreibtisch saß und arbeitete. Tobin hatte ihren Vater gekannt und ihr in den vielen Jahren der Trauer hilfreich zur Seite gestanden. Während May die Eulen in den Dachsparren betrachtete, dachte sie an ihren Vater und Serge, an das wachsende Gefühl der Entfremdung zwischen Tobin und ihr, und daran, was das alles zu bedeuten hatte.
*
Im Gefängnis wurde es im November immer eisig kalt. Wenn in den Häusern die Heizungen aufgedreht wurden, die Familien Truthähne brieten, Kastanien rösteten und das taten, was eben gute Familien sonst noch um diese Jahreszeit machten, gaben die Boiler im Zellentrakt ihren Geist auf. Deshalb wärmte sich Serge im Gefängnishof mit seinen Freiübungen auf, sah zu, wie sein Atem in der Kälte gefror, und wurde von Erinnerungen an die Zeit geplagt, als er selbst noch eine Familie gehabt hatte.
»Kalt draußen, Serge«, sagte Jim, einer der Wärter.
»Nur für Leichtgewichte.« Serge machte seine Liegestütze auf dem Teerboden.
»Stimmt. Du müsstest in deinem Element sein, hast ja damals einige Jahre Eishockey gespielt.«
»Damals.«
»Wie viele Liegestütze hast du schon?«
»Zweihundertvierzig, einundvierzig.« Serges Bewegungen wurden verkrampfter.
»Dann will ich dich beim Zählen nicht stören«, sagte Jim und ließ ihn allein.
Serge tat es beinahe Leid, ihn gehen zu sehen. Jim war etwa in seinem Alter. Er sah fit aus, als würde er laufen und hin und wieder Gewichte heben. »He!«, rief Serge ihm nach, während er weiter Liegestütze machte. »Hast du mal gespielt?«
»Was gespielt?« Jim drehte sich halb zu ihm herum.
»Eishockey.«
»Nein. Aber Football, in der Highschool. Und Baseball.«
Serge beugte den Kopf und stieß sich kraftvoll nach oben. Er steigerte sein Tempo um die Hälfte. »Martin spielte im Frühjahr Baseball. Sobald der See aufgetaut war«, murmelte er.
»Was hast du gesagt?«, rief Jim.
»Nichts.« Er sprach immer noch zu leise und Jim konnte ihn nicht verstehen, also setzte der Wärter seinen Kontrollgang fort. Nach der dreihundertsten Liegestütze stand Serge auf. Er lehnte sich gegen die Wand und machte Dehnübungen.
Martin hatte gestern Abend Detroit und vorgestern Chicago platt gemacht. Er war in diesem Jahr zur Höchstform aufgelaufen. Die Zeitungen schrieben, das sei die beste Saison seines Lebens und dass seine Heirat offenbar der Grund dafür sei. Die Ehe hatte den Goldenen Vorschlaghammer nicht zahm gemacht, sondern gelöster und kraftvoller. Serge hatte besonders auf Martins Augen, Knöchel und Knie geachtet. Sobald man die dreißig überschritt, konnten einen Verletzungen gleich für eine ganze Saison aus dem Rennen werfen.
»He, Alter«, rief Tino, der junge Bursche mit dem kahl geschorenen Kopf. Er stieß eine Rauchwolke aus.
»Was rauchst du da? Eine Zigarette?«
»Ja, willst du eine?«
» Merde , nein. Ich fasse so was nicht an. Bist du sicher, dass du kein Gras rauchst?«
»Kein Gras, kein Crack. Ich bin clean, wie oft soll ich das noch sagen.«
» Bien . Für heute Morgen.«
Tino lachte.
Weitere Kostenlose Bücher