Was allein das Herz erkennt (German Edition)
wolltest du ihn nicht enttäuschen. Das hast du mir selbst erzählt – du dachtest, er würde sich das Spiel vielleicht im Gefängnis anschauen.«
» Mon Dieu.« Martin stützte sich auf den Spülstein, schüttelte den Kopf. »Mein Pech, dass du so ein gutes Gedächtnis hast. Ich werde dir demnächst nichts mehr erzählen, wenn du alles, was ich sage, irgendwann gegen mich verwendest.«
May starrte aus dem Küchenfenster; es schneite. Früher hatte der Anblick des Schnees immer ein Gefühl des Friedens in ihr geweckt, aber im Augenblick setzte das Wetter ihr hart zu. Martin verdrehte ihr die Worte im Mund und sie wusste nicht, wie sie wieder alles richtig stellen sollte.
»Du sagtest, dass die Leute denken, du hättest ihn abgeschrieben, aber –«
»Lass es dabei bewenden. Ich habe ihn abgeschrieben und damit basta.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Hör zu, May.« Martin drehte sich zu ihr um. Sein Blick war angespannt und kalt, die Schultern fast bis zu den Ohren hochgezogen. »Eishockey wird immer mit meinem Vater verbunden sein. Wenn ich aufs Eis hinaustrete, ist er da. Ich höre seine Stimme, die mir sagt, was ich tun soll. Wie ich Schlittschuh laufen, wie ich den Puck schlagen soll. Er ist einfach da, ob ich will oder nicht.«
»Er war dein erster Lehrer?«
»Der große Serge Cartier«, erwiderte Martin voller Hass. »Mein Vater.«
May sah, wie die Wut in ihm aufstieg. Sie erinnerte sich an den Sommer und ihr Magen verkrampfte sich. Sein Gesicht war gerötet und die Sehnen an seinem Hals traten hervor. Hoch aufgerichtet stand er auf der Schwelle der Küchentür, die Arme gegen den Rahmen gedrückt, den Bizeps angespannt, als wollte er das Haus niederreißen.
»Manchmal denke ich, dass ich den Stanley Cup nur gewinnen will, um es ihm zu zeigen. Damit ich zur Ruhe komme und ihn ein für allemal aus meinem Gedächtnis streichen kann. Weißt du eigentlich, wie oft er den Cup gewonnen hat? Ganze dreimal. Er hat sich dabei eine goldene Nase verdient und alles durchgebracht. Er hat ein Vermögen verspielt, während meine Mutter und ich uns mit knapper Not über Wasser halten konnten. Wir haben am Lac Vert gehungert und gefroren, während er sich in den Staaten herumgetrieben und sein Leben in vollen Zügen genossen hat.«
»Er hat euch kein Geld geschickt?«
»Geld?« Martin fragte, als hätte er plötzlich vergessen, was dieses Wort bedeutete. »Er schickte genau das, was er an Unterhaltszahlungen leisten musste. Es reichte hinten und vorne nicht.«
May hörte zu und fragte sich, wie er sich dabei gefühlt haben mochte, den Vater in Saus und Braus leben zu sehen, während er mit seiner Mutter um das nackte Überleben kämpfen musste. Bis heute hat sich nichts an diesem gestörten Verhältnis zu seinem Vater geändert, dachte May, als sie zusah, wie er rastlos hin und her ging.
»Spielsucht hat im Grunde nicht viel mit Geld zu tun.« Martins Stimme wurde leiser. Sie klang rau und abgehackt, erinnerte May an ein Tier in der Falle. »Das Wichtigste ist dabei der Nervenkitzel. Das Gefühl, am Rande des Abgrunds zu stehen, sich noch einen Schritt weiter nach vorne zu wagen und zurücktreten, bevor man fällt. Solche Spielchen hat er mit mir gemacht.« Martin berührte seine Brust. »Und mit Nat. Aber er hat den Schritt zurück nicht mehr rechtzeitig geschafft. Er hat das Leben meiner Tochter verspielt!«
»Oh Martin!« May streckte die Arme aus, aber Martin ließ nicht zu, dass sie ihn berührte. Er wich zurück in die Ecke und schlang die Arme um seinen Körper, als hätte er Angst, die Beherrschung zu verlieren und mit einem Fausthieb die Wand zu zertrümmern.
»Es tat ihm Leid. Hinterher. Behauptete er zumindest.«
»Er muss sich schreckliche Vorwürfe machen.«
Martin stieß heftig den Atem aus, hart und gnadenlos wie ein arktischer Sturmwind.
»Ich will ihn nicht mehr in meinem Leben haben, May, sondern ihn ein für allemal raushalten. Die Begegnung mit dir und Kylie war wie ein Segen für mich. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals wieder eine Frau und ein Kind haben würde. Lass ihn dort, wo er ist, wo er uns nicht schaden kann.«
May hörte, wie seine Stimme zitterte. Sein Gesicht war immer noch gerötet vor Zorn, aber er senkte die Arme, als wollte er dem Haus noch einmal eine Chance geben. Und doch hatte May das Zittern in seiner Stimme bemerkt. Ihr raubeiniger Ehemann, der beim Hockey so furchtlos auf dem Eis war, muskelbepackt und stets der Erste bei einer Auseinandersetzung, zitterte
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