Was allein das Herz erkennt (German Edition)
mir passt«, schrieb ihr eine Frau. Andere baten um einen Liebestrank für den Mann ihrer Träume oder wollten sie für ihre Hochzeitsplanung engagieren. May versuchte, alle Briefe zu beantworten, aber sie war mit ihrer Arbeit im Bridal Barn und im Haushalt mehr als ausgelastet.
An einem kalten Abend zwischen den Spielen, als draußen alles gefroren war, brachte Martin zwei Paar Schlittschuhe mit nach Hause und ging mit ihnen auf den Weiher hinter dem Bridal Barn Eis laufen.
May hatte seit Jahren nicht mehr auf Schlittschuhen gestanden. Sie fühlte sich unsicher, ließ sich von Martin den Arm um die Taille legen und glitt mit ihm gemeinsam über das Eis. Er bewegte sich wie der Wind, schnell und sicher, hielt sie und flüsterte ihr Anweisungen ins Ohr, bis sie wieder ein Gefühl für die Balance hatte. Atemlos nahm sie auf einem Baumstumpf Platz, um zuzuschauen, wie er mit Kylie übte. Vor Freude quietschend, wäre Kylie am liebsten die ganze Nacht weiter gelaufen, und so blieben sie auf dem Eis, bis die Sterne aufgingen und die Temperatur unter fünf Grad minus gefallen war.
Die erste Postkarte traf mit einem Stapel Weihnachtskarten ein. May saß gerade an ihren Schreibtisch, blickte aus dem Fenster auf den Weiher hinaus und wünschte, Martin wäre zu Hause statt in Montreal, so dass sie am Abend wieder Schlittschuh laufen konnten.
»Für dich.« Tobin legte die Karte auf Mays Schreibtisch.
»Was ist das?«
»Ein Geheimnis. Eigentlich gehört es sich nicht, aber ich habe sie trotzdem gelesen.«
May blickte die Postkarte lange an, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Auf der Karte war eine Abbildung von einem See im Sommer und auf der Rückseite stand: »Passen Sie gut auf ihn auf.« Es gab keine Unterschrift. Die Karte war an sie adressiert und trug den Poststempel von Estonia, N. Y.
»Wen kennst du denn in Estonia?«, fragte Tobin.
May wusste es auf Anhieb: Serge Cartier. Dort befand sich das Gefängnis, in dem er seine Strafe verbüßte. Sie hatte es oft genug in den vielen Berichten über ihn gelesen. Sie warf Tobin einen verstohlenen Blick zu, hätte ihr gerne von ihm erzählt. Aber da sie wusste, was Martin für seinen Vater empfand, hatte May in Tobins Gegenwart nie etwas Genaues über ihn erzählt, und nun zögerte sie.
»Keine Ahnung.« May errötete angesichts der Lüge. Der Wunsch, mit der Wahrheit herauszurücken, quälte sie. Tobin stand reglos da und wartete, skeptisch, verletzt. Sie hatten sich in den letzten Monaten wirklich entfremdet. May öffnete den Mund, aber sie brachte keinen Ton über die Lippen. Stattdessen steckte sie die Karte in ihre Handtasche, als Tobin schließlich wieder an ihre Arbeit ging.
Ganz unten in ihrer Tasche erspähte May das blaue Notizbuch, das Tagebuch, in dem sie Kylies Visionen und Träume vermerkte. Sie hatte sich seit dem Sommer weder bei Dr. Whitpen gemeldet noch hatte es Ereignisse gegeben, die der Aufzeichnung bedurften. Keine Engelsträume mehr, keine Fragen mehr über Natalie.
Doch als ihre Fingerspitzen das Tagebuch streiften, dachte May daran, was Dr. Whitpen über den Schleier gesagt hatte: dass Kylie durch ihn hindurchsehen konnte und sich vielleicht zu Martin wegen seiner Beziehung zu seinem Vater und seiner Tochter hingezogen gefühlt hatte. Sie schob das Notizbuch tiefer in ihre Handtasche und zog den Reißverschluss zu.
*
May zeigte Martin die Karte nicht, aber der Gedanke an sie ließ sie nicht los.
Im Dezember, als die Bruins ein Heimspiel gegen die Rangers verloren hatten, fuhren Martin und May spätabends aus der Garage, die für die Spieler reserviert war. Als die Fans den schwarzen Porsche erkannten, umringten sie ihn, um ein Autogramm zu ergattern. Martin kurbelte die Fensterscheibe herunter und schrieb. Meistens waren es Väter und Söhne, aber May sah auch einige gut aussehende Frauen unter den Fans. Martin schrieb schweigend, mit angespanntem Gesicht.
Er sprach auch dann nicht, als sie losfuhren. May wusste aus Erfahrung, dass dieses Verhalten nach einer Niederlage typisch für ihn war. Er analysierte das Spiel in Gedanken, ließ die Fehler, die ihm unterlaufen waren, immer wieder Revue passieren, brütete über Taktiken, die eine Veränderung bewirkt hätten. Boston war weihnachtlich geschmückt, überall waren weiße Lichterketten und trotz Martins Schweigsamkeit war May von Vorfreude erfüllt.
»Unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest«, sagte sie.
»Bedauerst du es noch nicht, dass du von Black Hall nach Boston gezogen
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