Was am Ende bleibt
ich fernsah, desto schlechter ging es mir natürlich. Wenn man Romane schreibt und nicht mal
selber
Lust zum Lesen hat, wie kann man dann von anderen erwarten, dass sie die Bücher von einem lesen? Ich glaubte, lesen zu
sollen
, genauso wie ich glaubte, einen dritten Roman schreiben zu
sollen
. Und zwar nicht irgendeinen dritten Roman. Es war lange eine vorgefasste Meinung von mir gewesen, dass es eine Romanhandlung bereichert, wenn man die Figuren in einem dynamischen gesellschaftlichen Umfeld ansiedelt, und dass die Größe des Genres in seiner Eigenschaft besteht, die Spanne zwischen privater Erfahrung und öffentlichem Kontext zu überbrücken. Und welchen lebendigeren Kontext konnte es schon geben als das Fernsehen, das diese Spanne kleiner werden ließ?
Allerdings war ich beim dritten Buch wie gelähmt. Ich überlud die Handlung, dehnte sie, um immer noch mehr jener Realitätspartikel in ihr unterzubringen, die sich beim Unternehmen «Literaturverfassen» aufdrängen. Das klare, schöne, anspielungsreiche Werk, das ich schreiben wollte, quoll über von Themen. Ich hatte mich schon in die Pharmakologieund das Fernsehen und die Rassenfrage und das Gefängnisleben und in ein weiteres Dutzend Fachsprachen der heutigen Zeit eingearbeitet; wie sollte ich den Internetboom und den Dow Jones satirisch darstellen und gleichzeitig der Komplexität von Figuren und Schauplätzen Raum lassen? Angst wächst in der Kluft zwischen einem sich immer mehr in die Länge ziehenden Romanprojekt und den immer kürzer werdenden Intervallen des kulturellen Wandels: Wie entwirft man ein Boot, das zumindest so lange auf der Geschichte schwimmt, wie es dauert, es zu bauen? Der Autor von Romanen hat seinen Lesern immer mehr zu sagen, während sie immer weniger Zeit zum Lesen haben: Woher nimmt man die Kraft, auf eine Kulturkrise einzuwirken, wo doch die Krise gerade in der Unmöglichkeit besteht, auf die Kultur einzuwirken? Es war eine unglückliche Zeit. Ich fing an zu glauben, dass mit dem Modell des Romans als einer Form des «kulturellen Engagements» etwas nicht stimmte.
Im neunzehnten Jahrhundert, als Dickens, Darwin und Disraeli untereinander ihre Werke lasen, war der Roman das vorherrschende Medium gesellschaftlicher Belehrung. Einem neuen Buch von Thackeray oder William Dean Howells wurde ähnlich entgegengefiebert wie heute dem Start eines Kinofilms am Jahresende.
Der entscheidende, naheliegende Grund für den Niedergang des Gesellschaftsromans ist der, dass die modernen Technologien viel eher dazu taugen, die Gesellschaft zu belehren. Fernsehen, Rundfunk und Fotos sind lebendige Medien des Augenblicks. Auch der Zeitungsjournalismus ist infolge von Truman Capotes
Kaltblütig
zu einer lebensfähigen, schöpferischen Alternative zum Roman geworden. Weil Fernsehen und Nachrichtenmagazine über ein großes Publikum verfügen, können sie es sich leisten, in kurzer Zeit gewaltige Informationsmengen zusammenzutragen. Nur wenige ihre Arbeit sehr ernsthaft betreibende Romanautorenkönnen einen Kurztrip nach Singapur oder auch die Menge an Fachberatung bezahlen, die Fernsehserien wie
Emergency Room
und
NYPD Blue
den Anstrich von Authentizität verleihen. Der durchschnittlich begabte Autor, der, sagen wir, über die Misere illegaler Einwanderer berichten will, wäre töricht, den Roman als Vehikel zu wählen. Ebenso der Autor, der aktuelle Empfindlichkeiten verletzen möchte. Philip Roths Buch
Portnoys Beschwerden
, von dem selbst meine Mutter genug gehört hatte, um es zu missbilligen, war wahrscheinlich der letzte amerikanische Roman, der auf dem Radarschirm des republikanischen Senators Bob Dole als Albtraum von Verderbtheit erscheinen konnte. Die Baudelaires der Gegenwart sind Hip-Hop-Künstler.
Das Wesen der Literatur ist einsame Arbeit: die Arbeit des Schreibens, die Arbeit des Lesens. Ich kann Sophie Bentwood genau kennen und von ihr ebenso ungezwungen sprechen wie von einer guten Freundin, weil ich meine eigenen Erfahrungen mit Angst und Entfremdung in mein Bild von ihr habe einfließen lassen. Würde ich sie nur durch ein Video von
Desperate Characters
kennen (für Shirley MacLaine, die sie in dem Kinostreifen von 1971 spielte, war er ein Vehikel für sie selbst), bliebe Sophie eine «andere», abgetrennt von mir durch den Bildschirm, auf dem ich sie gesehen hätte, durch die Oberflächlichkeit von Literaturverfilmungen, durch MacLaines Starpräsenz. Allenfalls hätte ich das Gefühl gehabt, Shirley MacLaine ein bisschen besser
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