Was aus den Menschen wurde: Meisterwerke der Science Fiction - Mit einem Vorwort von John J. Pierce (German Edition)
Leben; ich erinnerte mich daran, aber es spielte keine Rolle mehr. Virginia war ebenfalls Französin, und vor uns lagen die Jahre unserer Zukunft wie reife Früchte in einem Obstgarten ewigen Sommers. Wir wussten nicht, wann wir sterben würden. Früher hatte ich zu Bett gehen und mir sagen können: »Die Regierung hat mir vierhundert Jahre Leben gestattet. In dreihundertvierundsiebzig Jahren wird man mir keine Strooninjektionen mehr geben, und ich werde sterben.« Jetzt wusste ich, dass alles möglich war. Die Sicherheitsanlagen waren abgeschaltet worden. Krankheiten breiteten sich aus. Mit Glück und Hoffnung und Liebe würde ich vielleicht noch tausend Jahre leben können. Oder ich würde morgen sterben. Ich war frei.
Wir genossen jeden Augenblick des Tages.
Virginia und ich kauften die erste französische Zeitung, die seit dem Untergang der Ältesten Welt erschienen war. Wir fanden Vergnügen an den Nachrichten und sogar an den Anzeigen. Einige Teile der Kultur waren schwer zu rekonstruieren. Es war problematisch, über Speisen zu reden, von denen nur die Bezeichnungen überlebt hatten, aber Homunkuli und Roboter arbeiteten unermüdlich im Tiefunten-tiefunten, versorgten die Oberfläche der Welt mit genügend Neuigkeiten, um jedermanns Herz mit Hoffnung zu erfüllen. Wir wussten, dass alles nur nachgemacht war, und doch war es auch echt. Wir wussten, wenn die Krankheiten die statistisch festgesetzte Anzahl Menschen dahingerafft hatten, würden sie eingedämmt werden; wenn die Unfallrate zu hoch stieg, würde man sie verringern. Wir wussten, dass über uns alle die Instrumentalität wachte. Wir vertrauten darauf, dass Lord Jestocost und Lady Alice More mit uns wie mit Freunden spielen würden – und uns nicht als Spielfiguren betrachteten, die geopfert werden konnten.
Nehmen wir zum Beispiel Virginia. Man hatte sie Menerima genannt, ein Name, der aus den kodierten Lauten ihrer Geburtsnummer entstanden war. Sie war klein, fast pummelig; sie war kompakt; ihr Kopf war mit dichten braunen Locken bedeckt; ihre Augen waren von einem so tiefen Braun und so eindrucksvoll, dass sie in das Sonnenlicht blinzeln musste, um die Farbenprächtigkeit ihrer Iris aufleuchten zu lassen. Ich kannte sie schon lange. Oft hatte ich sie gesehen, aber niemals mit meinem Herzen, bis wir uns direkt vor dem Krankenhaus trafen, nachdem wir in Franzosen verwandelt worden waren.
Ich war erfreut, eine alte Bekannte wiederzutreffen, und ich wollte sie in der Alten Sprache anreden, aber die Worte blieben mir im Halse stecken, denn als ich zu sprechen versuchte, da war sie nicht mehr Menerima, sondern jemand von antiker Schönheit, erlesen und fremd – jemand, der aus den reichen Welten der Vergangenheit in diese späten Zeiten eingetreten war.
Ich konnte nur stammeln: »Wie nennst du dich jetzt?« Und ich sagte es in altem Französisch.
Sie antwortete in derselben Sprache. »Je m’appelle Virginie.«
Sie anzuschauen und mich in sie zu verlieben war ein und dasselbe. Es war etwas Starkes, etwas Wildes an ihr, eingehüllt und versteckt in der Sanftmut und der Jugend ihres mädchenhaften Körpers. Es war, als ob das Schicksal aus den ruhigen braunen Augen zu mir sprach, Augen, die mich offen und forschend ansahen, genauso wie wir beide die frische neue Welt aufmerksam betrachteten, die uns umgab.
»Darf ich?«, fragte ich und bot ihr meinen Arm, wie ich es in den Stunden der Hypnopädie gelernt hatte.
Sie nahm meinen Arm, hakte sich unter, und wir ließen das Krankenhaus hinter uns.
Ich summte eine Melodie, die mir in den Sinn gekommen war, zusammen mit dem altfranzösischen Text.
Sie zog sanft an meinem Arm und lächelte zu mir hoch. »Wie heißt das Lied?«, fragte sie, »oder weißt du es nicht?«
Die Worte drangen weich und unbewusst über meine Lippen, und ich sang sehr leise, meinen Mund in ihrem Lockenhaar vergraben, und ich sang halb, flüsterte halb den Schlager, der mir mit all den anderen Dingen, die mir die Wiederentdeckung des Menschen geschenkt hatte, in den Sinn gekommen war:
Sie war eine Frau, sie war mein Glück,
Und ihre Augen, ihre Augen, die glosten.
Sie sprach nicht das Französisch der Franzosen,
Sondern das Französisch von Martinique.
Sie war nicht reich, sie war nicht schick.
Und das war alles …
Plötzlich verlor ich den Faden. »Ich glaube, ich habe den Rest vergessen. Es heißt ›Macouba‹, und es hat irgendetwas mit der wundervollen Insel zu tun, die die alten Franzosen Martinique
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