Was bin ich wert
viele von diesen Blutern gäbe, würde unser Verteilungsproblem greifbar. Entscheidend wird es, wenn es konkret wird. Dann ist unsere Solidarität gefragt, und die darf nicht abnehmen. Und wir müssen vorsichtig sein. Diejenigen, die ihre ethischen Reden in die Tat umsetzen, sind in der Minderheit. Mit den Zeiten können sich auch die Bewertungen schnell ändern. Das ist alles andere als trivial.
Die Frage lautet dann: Wie belastbar ist unsere Solidarität? Bei welcher Summe ist Schluß damit? Nussbaumer sieht die enorme soziale Sprengkraft, die sich hinter diesen Fragen verbirgt. Er antwortet lieber indirekt.
– Es ist sehr schwer, konkrete Zahlen zu nennen, bis zu welcher Höhe jemand mit lebensrettenden Medikamenten versorgt werden sollte. Denken Sie aber andererseits mal an die über zwei Milliarden US -Dollar, die ein Tarnkappenbomber kostet. Damit könnte man eine ganze Menge dieser Bluter versorgen, ganz zu schweigen von den Hundertausenden Hungertoten der nächsten Monate, die man damit verhindern könnte. In der Tat haben solche Kalkulationen eine enorme politische Bedeutung. Man braucht zwei Dinge: Erstens ein Minimum an Berechnung. Man muß rechnen, so zynisch das auch ist. Zweitens braucht man für die entsprechenden Berechnungen absolute Transparenz, um willkürliche Herleitungen oder Anwendungen in entsprechenden Gremien zu vermeiden.
Er lehnt sich zurück.
– Bei meinem »Mindestwertansatz« geht es um den Versuch, eine Art von Gerechtigkeit herzustellen, zu garantieren, daß wir Menschen in den Entwicklungsländern, die – wie mal jemand sagte – »geboren werden, um mit ihren Körpern dieErde zu düngen«, daß wir eben diesen Menschen einen Wert zugestehen und entsprechend handeln.
– Aber wie sähe die Umsetzung tatsächlich aus?
– Eine ganz schwierige Frage.
Ja, hat er schon mal gesagt. Er denkt über den Tellerrand der Ökonomie hinaus. Das ist schön. Es hapert für meinen Geschmack aber ein bißchen bei der Konkretisierung der Lösungsansätze. Das ist schade. Aber vielleicht ist ja genau das das Dilemma.
– Der Witz ist ja, daß Globalisierung bedeutet, daß die Welt immer kleiner wird. Wir bräuchten beim Wert des Lebens einen globalen Mindeststandard. Den könnte man ermitteln. Ein Minimum, das für jeden gilt, der geboren wird. Das kann sich ja schließlich keiner aussuchen. Auf der untersten Ebene steht die Kalkulation, bei der es um den Hunger, um das Überleben geht. Selbst bei unterschiedlichen Werten für ein statistisches Leben muß es eine Untergrenze geben, die für alle Menschen gilt. Da hört die Rechnerei dann auf.
Es ist wirklich nicht einfach, ein global gültiges Minimum zu berechnen, das ein Mensch zum Leben braucht, daß ihm also Ernährung, Kleidung, Unterkunft, medizinische Versorgung und Bildung sichert. »Objektiv« ist es unmöglich. Etwa ein Sechstel der Weltbevölkerung, das heißt weit über eine Milliarde Menschen, muß mit weniger als einem Euro pro Tag auskommen. So gesehen könnte ein ganzer Euro am Tag schon eine Art Mindeststandard sein. Ich nehme meine »statistischen« 77 Lebensjahre, multipliziere sie mit 365 Tagen und komme auf 28 105 Euro. Bezogen auf meine statistische Restlebenszeit von 31 Jahren komme ich auf 11 315 Euro.
Ein Euro kann aber kein Maßstab sein, weil er eine Existenz in würdelosem Elend bedeutet. Zugang etwa zu medizinischer Versorgung ist unter solchen Bedingungen unmöglich. So stehen zur Zeit nur etwa für zwanzig Prozent der Weltbevölkerung saubere Blutkonserven für eine Operation zur Verfügung, sagt Nussbaumer.
Die genaue Festlegung eines Minimums ist eine Frage der Gerechtigkeit und damit hochpolitisch. Mit dem Mut zur Willkür und der Lust am Zahlenspiel suche ich einen Weg zwischen Bescheidenheit und Großzügigkeit und entscheide mich für ein Minimum von fünf Euro am Tag. So komme ich auf einen Wert von 140 525 Euro für mein ganzes Leben und 56 575 Euro für meine Restlebenszeit. Mit den entsprechenden Summen müßte man dann statistisch für jeden Menschen der Welt kalkulieren. Jeder hätte den gleichen Anspruch. Bittere Zahlen für mich. Mindestens ein Fest für einen Bauern in Sierra Leone. Anstatt einer neuen Ampel vor der Schule in meinem Viertel gibt es dann eine Krankenstation und noch ein paar Brunnen in seinem Dorf. Und das wäre erst der Anfang. Mir wird ein wenig mulmig.
– Das könnte neue Fragen, insbesondere Verteilungsfragen aufwerfen.
– Ja. Man
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