Was bin ich wert
allem ein entschiedener Aspekt, vor dem ich mich bisher gedrückt habe: Gesundheit. Meine Gesundheit. Die Frage, was sie kosten darf. Ich habe mich damit in meinem Alltag nie ernsthaft beschäftigen müssen, weil ich nur selten krank bin. Aber natürlich habe ich über die ganzen Diskussionen in der Gesundheitspolitik mitbekommen, daß es da ein Problem gibt.
Einer Umfrage der Uni Tübingen zufolge haben 77 Prozentder deutschen Klinikärzte ihren Patienten schon einmal aus Kostengründen eine sinnvolle Behandlung verweigert. Im Mai 2009 wagt der damalige Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, einen öffentlichen Tabubruch. In seiner Eröffnungsrede des 112. Deutschen Ärztetages verlangte er von der Politik Empfehlungen zu »einer gerechteren Verteilung der knappen Mittel« beziehungsweise eine Antwort auf die Frage, »welche Therapiemöglichkeiten für welche Patienten in Zukunft zur Verfügung stehen« sollen. »Die Politik« fand das in Person der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nicht so klasse, weil sie weiterhin der Meinung ist, daß im Grunde für alle alles, zumindest alles »Wichtige« da sei. Zumindest wird das so behauptet.
Hoppe allerdings glaubt das nicht. Er versucht weiterhin, die Diskussion voranzutreiben. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erklärte er Ende Februar 2010, im Gesundheitssystem würde heimlich rationiert, weil nicht genügend Geld zur Verfügung stehe, um allen Menschen die optimale Therapie zukommen zu lassen: »Wir müssen in Deutschland endlich ein Verfahren entwickeln, nach dem entschieden wird, wer wie behandelt wird, wenn die Mittel nicht für alle reichen. Wir müssen endlich über Priorisierung sprechen.«
Auch in den Gesprächen, die ich bis zu diesem Zeitpunkt über die Menschenwertberechnungen geführt habe, hatte sich das Problem immer wieder angedeutet. Zuletzt bei Nussbaumer, der eine, wenn auch sehr behutsame, Kalkulation zum Wert des Lebens forderte, um ein Kriterium zu haben, »was zum Beispiel eine Operation kosten darf«. Und der Medizinhistoriker Vögele sprach von der »Budgetierung ärztlicher Leistungen«, dem Problem der »Verteilungsgerechtigkeit« und den Klinikärzten, die sich für »ihre existentiellen Entscheidungen eine verbindliche Verhaltensethik« wünschten.
Was darf Gesundheit und damit auch mein Leben also kosten? Ich sollte wohl mal meine Hausärztin fragen. Bei der war ich lange nicht mehr. Aber sie ist sehr nett.
36.
Was Gesundheit kosten darf.
» 43 , 48 Euro«, sagt meine Hausärztin
Die Praxis liegt am Lausitzer Platz, wo es 1987 erstmals zu den Mai-Krawallen kam, die mittlerweile zur Kreuzberger Folklore gehören. Trotz aller Beschaulichkeit gilt die Gegend auch heute noch als sozialer Brennpunkt. Unvergessen die Szene, als meine Ärztin – sie wollte mir gerade Blut abnehmen – mit interessiertem Blick meine Unterarme musterte.
– So was sieht man hier selten.
– Was?
– Na, Venen die nicht zerstochen oder vernarbt sind.
Meine Ärztin, das wurde mir nach diesem speziellen Kompliment bald klar, hat das Herz am rechten Fleck. Ihre Patienten stehen in der Regel am unteren Ende der in dieser Gegend ohnehin schon niedrigen Einkommensskala.
Die Praxis ist klein, das Behandlungszimmer winzig, eine ältere Sprechstundenhilfe so gut wie blind und ihre jungen Kolleginnen meist türkischer Abstammung. Im Wartezimmer konkurrieren ein paar Topfpflanzen um das spärliche Licht vom Hinterhof. Einige Patienten haben Familienmitglieder zur Unterstützung mitgebracht. Kleine Kinder jagen quietschende Holzautos über den blauen Teppichboden. Wer hierher kommt, muß Zeit mitbringen. Von dieser Zeit nimmt sich meine Hausärztin meist soviel wie möglich, mindestens aber soviel wie nötig. Dann bin ich dran. Ich sage »Guten Tag« und stelle meine Grundsatzfrage:
– Was bin ich wert?
– Wie?
– In Geld ausgedrückt. Was würden Sie sagen, bin ich wert?
– 43,48 Euro!
– Wie?
– 43,48 Euro. Das ist der Durchschnitt. Soviel bekomme ich, egal um welches Problem es sich handelt, pro Patient für die drei Monate eines Quartals.
Das Ganze ist ein bißchen kompliziert: Wie für andere niedergelassenen Hausärzte auch ist für ihre Praxis ein sogenanntes »Regelleistungsvolumen« ( RLV ) festgelegt. Dahinter verbirgt sich eine Art Honorar-Obergrenze. Nur bis zu diesem Limit wird ihre Arbeit voll bezahlt. Das RLV richtet sich nach der Zahl der Patienten, deren
Weitere Kostenlose Bücher