Was bin ich wert
sehr viele Formeln und Diagramme, die mein mathematisches Verständnis überfordern. Trotzdem oder gerade deswegen bin ich darauf gespannt, Breyer persönlich kennenzulernen.
Als er einen Vortrag in der Thüringischen Landesvertretung in Berlin halten soll, ist es soweit. Vorher hat er eine Stunde Zeit. Ich warte im Foyer, wo es tatsächlich nach thüringischen Bratwürsten vom nahen Grillstand riecht. Breyer kommtpünktlich. Ein schlanker, sportlicher Mann Ende Fünfzig. Die blau-weiß gestreifte Krawatte paßt prima zu den strahlend blauen Augen. Seine Ausstrahlung hat etwas Preußisches. Das wird kein Smalltalk. Bei aller Eloquenz ist Breyer auch ein wenig mißtrauisch. In den Medien würden seine ohnehin klaren Aussagen bisweilen noch weiter zugespitzt wiedergegeben. Das bringt ihm nicht nur Sympathien. Wir setzen uns an die Ecke eines großen Konferenztisches im dritten Stock.
– Warum haben Sie soviel Ärger?
Ich fange lieber vorsichtig an.
– Ökonomen sind unbeliebt, und Journalisten stellen sich gern gut dar, indem sie Ökonomen anprangern, die Kosten berechnen und nicht nur den Wert.
Klare Worte. Meine Erwartungen werden nicht enttäuscht. Weiter Breyer:
– Ökonomen setzen sich für rationale Ansätze ein. Emotionale Betrachtungen wirken aber oft, zumindest auf den ersten Blick, freundlicher. Deswegen ist es einfach, Ökonomen als herzlos oder unethisch darzustellen. Ein Journalist kann sich damit leicht in ein besseres Licht stellen. Politiker machen das aber auch.
– Das wäre dann Scheinheiligkeit, oder?
– Zum Teil schon. Politiker müssen bei ihren Entscheidungen Vor- und Nachteile abwägen, sie wollen aber auch gut dastehen. Deswegen scheuen sie harte Abwägungen.
– Warum sind Sie für Rationierung?
Ich will langsam auf den Punkt kommen.
– Der Streit um die Rationierung leidet an einer falschen Definition. Rationierung ist nicht »Vorenthaltung« sondern »begrenzte Zuteilung«. Und diese begrenzte Zuteilung gibt es doch schon längst. Wenn die Medizin alles bietet, was sie bieten kann, dann haben wir eine presidential medicine , wie sie vielleicht Obama oder Merkel bekommen. Es kann aber nicht jeder alles, was möglich ist, kostenlos erhalten, sonst bricht das System zusammen. Es muß Grenzen geben, also eine Zuteilung, die begrenzt ist. Es geht insofern nichtdarum, ob wir rationieren oder nicht, sondern ob wir implizit oder explizit rationieren. Die Ökonomen empfehlen, das explizit zu machen.
Explizit bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die Entscheidungen, wer was wann bekommt, grundsätzlich im Vorfeld und für alle getroffen werden. Zum Beispiel, daß ein bestimmtes Medikament oder eine bestimmte Operation aus dem Leistungskatalog gestrichen wird. Oder aber, daß zum Beispiel schon heute verkündet wird, daß über 70jährige in dreißig Jahren keine künstliche Hüfte mehr bekommen. Die implizite Variante ist hingegen eher eine »barmherzige Verschleierung«, bei der im Einzelfall der Arzt oder die Ärzte nach eigenem Ermessen entscheiden, was eventuell nicht gemacht wird. Umfragen unter Ärzten zufolge ist das Alter des Patienten heute schon ein wichtiges Kriterium.
– Betrifft das auch lebenserhaltende Maßnahmen?
– Selbstverständlich betrifft das auch Maßnahmen, die das Leben verlängern können. Zum Beispiel Operationen, wenn die Kapazitäten im Operationssaal knapp sind. Und das IQW i G –
– Das was?
– Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das aus Mitteln des öffentlichen Gesundheitswesens finanziert wird. Das soll Kosten-Nutzen-Analysen vorlegen, um Entscheidungen über Leistungen treffen zu können.
Bei der Kosten-Nutzen-Analyse im Gesundheitswesen, so steht es in Breyers Buch, »wird jeder Verbesserung der Gesundheit beziehungsweise der Lebensdauer ein Geldwert zugeordnet«. Aber wie bestimmt man den Nutzen einer medizinischen Maßnahme? Anders gefragt: Wie mißt man Gesundheit? Die Lebensdauer allein kann kein Maßstab sein. Will man lieber länger krank leben oder kürzer und dafür gesünder? Wie lassen sich zehn Lebensjahre in Blindheit mit vier Lebensjahren in vollständiger Gesundheit vergleichen? Die Antwort der Gesundheitsökonomen lautet QALY , was für»Quality Adjusted Life Year«, also das»qualitätskorrigierte Lebensjahr« steht. Mit Hilfe des 1968 entwickelten Konzepts können Gesundheitsökonomen ein Lebensjahr in Relation zur Gesundheit beurteilen. Dazu
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