Was bin ich wert
zurückziehen – Gott liebt dich, du bist sein Geschöpf und sein Kind und er hat Jesus für dich in die Welt gesandt und der hat für dich sein Blut vergossen und ist für dich gestorben, so hat er dich erlöst und gerettet und blablabla …
Polosseks »blablabla« finde ich etwas überraschend und sehr sympathisch.
– … das könnte ich alles schön aufzählen. Und das kann man in einer Predigt auch mal tun. Und wenn ein Mensch in den Mühlen der Sozialhilfe hängt und nur Ablehnung erfährt, wenn er erlebt, wie sein Lebensrecht relativiert wird, dann hilft ihm der Glauben auch. Der ist dann so eine Art Damm, der schützt und dafür sorgt, daß nicht alles weggespült wird. Er kann sich aufrichten und sagen: Ich laß mich nicht so runterziehen auf diese monetäre Ebene. Ich glaube an Gott.
Polossek holt Luft, tief Luft.
– Aber mein persönliches Selbstwertgefühl als Mensch wächst ja aus der Beziehung zu anderen Menschen. Da wo Beziehung gelingt, bin ich für andere etwas wert. Da wird das Bewußtsein für den Wert ein unbedingtes. Da halte ich nicht die Tasche zu, sondern würde alles geben.
Das Hirn, fällt mir ein, ist ein Sozialorgan. So las ich es zumindest in einem Interview mit dem Göttinger Neurobiologen Gerald Hüther. Demnach ist unser Gehirn »ein durch soziale Erfahrungen zusammengebautes Konstrukt«, das »auf das Knüpfen von sozialen Beziehungen optimiert« ist. Somit ist die Fähigkeit zum Miteinander, zur Empathie und gegenseitigen Wertschätzung ein wesentliches Merkmal des Menschen.
– Vor Gott sind alle gleich, oder?
– Ja, egal welches Volk, egal ob Christ, Muslim oder Hindu.
– Auch egal ob alt oder jung?
Ist ein bißchen eine Fangfrage, weil doch bei den ganzen monetären Berechnungen die Karten der alten Menschen meist schlechter sind und sich auch Polosseks Beispiel vorhin auf einen alten Mann bezog.
– Diese Relativierungen sind den Theologen zuwider. »Das ist Teufelszeug! Weg damit!« Aber das geht natürlich nicht. Man muß sich den Fragen stellen. Das ändert sich ja auch immer. Früher waren die Kinder weniger wert. Ist eins gestorben, machte man halt ein neues. Und die Alten wurden geehrt.
Daß das im Moment anders aussieht, liegt sicher auch an der leidigen Diskussion um die maroden Rentenkassen.
– Vor Gott und dem Recht sind alle Menschen gleich. Das sagt jeder. Das wird überall hochgehalten. Und wenn es konkret wird? Dann wird es schwierig. Dann fehlen die Lösungen. Unsere Möglichkeiten, die Möglichkeiten der Erde sind ja begrenzt. Und mit absoluten Forderungen kommt man nicht weit. Klar, es gibt eine absolute Linie, einen Maßstab, der sich vom Monetären abhebt und nicht runterziehen läßt. Aber wir müssen uns und auch unsere Relativität eingestehen.
Ich ahne es, eine richtige, endgültige und vor allem praktikable Lösung hat auch Polossek nicht.
– Die christliche Ethik ist keine Traumtänzerei. Aber es ist natürlich auch eine Frage, wie man bewertet. Sehen wir das Bruttosozialprodukt, unser wirtschaftliches Wachstum als das höchste Gut an? Ist das das Gut, dem wir den Menschen unterordnen wollen? Wir müssen aufpassen, daß die,die da rechnen, nicht Zusammenhänge und Zwänge konstruieren, die so nicht gegeben sind.
Ich denke an die beiden Medizinhistoriker, ihr Mißtrauen gegenüber den Voraussetzungen, unter denen gerechnet wird, ihre Warnung vor den Schlußfolgerungen, die aus vermeintlich harmlosen Rechnungen gezogen werden können.
– Daß man nicht plötzlich glaubt, es gäbe keine Alternativen mehr, daß es nicht heißt: »Wir müssen die Lebenserwartung der Alten reduzieren, sonst bekommen wir das und das Problem«. Diese Drohkulissen müssen hinterfragt werden.
Er holt Luft, sehr, sehr viel Luft.
– Ich halte eine gewisse religiöse Überzeugung schon für notwendig, damit der ethische Grundwasserspiegel nicht ins Bodenlose sinkt. Damit es eine Barriere, eine Grenze gibt, die nicht überschritten werden darf.
– Wie könnte diese Grenze aussehen?
– Ich weiß es nicht.
Ich schätze seine Ehrlichkeit. Doch die letzte Antwort ist unbefriedigend. Also nochmal die Frage:
– Was ist ein Mensch wert? Kann man das beantworten?
Polossek lächelt ein wenig genervt.
– Sie merken doch, daß ich nicht zu frommen Sprüchen und erhabenen, ehernen Formeln neige. Natürlich könnte ich sagen: »Der Mensch ist unheimlich viel wert! Man darf ihn nicht relativieren!«
Ja,
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