Was bisher geschah
anders. In Indien, so Weber in seinen Aufsätzen zur Religionssoziologie (Band II, 1921), habe sich der Kapitalismus deshalb nicht eigenständig entwickelt, weil die Religionen dort nicht »rational ökonomisch« ausgerichtet gewesen seien. Insgesamt erscheinen Hinduismus und Buddhismus aus westlicher Sicht oft als nicht an den Dingen dieser Welt interessiert, sondern als mystisch und abgehoben.
Indien: Kastenwesen und Gewaltfreiheit, sexual healing und soziale Kälte
Ein bisschen hat zum Bild von der religiösen Abgehobenheit Asiens beigetragen, dass seine eigene Geschichtsschreibung selbst über Jahrtausende besonders an Legenden orientiert war. Über die erste indische Hochkultur, die Indus-Kultur, weiß man, dass sie ihre Blüte ungefähr zwischen 2600 und 1900 v. Chr. hatte. In den Städten Harappa und Mohenjo-Daro mit ihren rund 40 000 Einwohnern baut man – ähnlich wie im mesopotamischen Uruk – Straßennetze und Abwassersysteme. Um 1500 v. Chr. unterwerfen allerdings die aus Zentralasien eindringenden Arier die Indus-Kultur, die zu dem Zeitpunkt schon geschwächt ist, womöglich auch durch ökologische Probleme wie Überflutungen und Erosion aufgrund von exzessiven Waldrodungen.
Die Arier etablieren oder reorganisieren das Kastenwesen, das sehr direkt in das Alltagsleben eingreift. Zunächst gibt es vier Kasten: 1.) Brahmanen, die zugleich Priester, Dichter, Gelehrte und Politiker sind; 2.) Krieger, Fürsten; 3.) Kaufleute und freie Bauern; 4.) Diener, unfreie Arbeiter, Bauern und Handwerker. Sklaven – die man erst später Parias beziehungsweise »unberührbar« nennt – stehen außerhalb der Abstufung, die im Lauf der Zeit rund 3000 Unterkasten umfassen wird. Das Kastenwesen hängt eng mit dem Hinduismus und seinem Vorläufer, dem Brahmanismus, zusammen. Sie prägen Indien mit großen Unterbrechungen – in denen der Buddhismus, später der Islam dominieren – bis heute. Mit der Zeit werden Brahmanen ähnlich symbiotisch mit weltlichen Fürsten und Feudalherren zusammenarbeiten wie später europäische Kirchenmänner.
Schon mit den ersten Veden, den heiligen Schriften, definieren Brahmanen ab rund 1500 v. Chr. Sitten, Gebräuche, Opferrituale und Weltbilder und lassen sich dafür gut entlohnen. Zu den älteren Veden, die über Jahrhunderte nur mündlich überliefert wurden, zählt die Rigveda mit Hymnen etwa auf Indra, der im Hinduismus vom Kriegsgott zum Gott des Regenfalls wird. Erst die Upanishaden (»Geheimlehren«) geben dem Hinduismus zwischen 800 und 200 v. Chr. seine heutige Form. Über all den Sondergottheiten für verschiedene Belange stehen drei Hauptgötter in Menschengestalt: 1.) Brahma, der Schöpfer und Urgott; 2.) Vishnu, der Bewahrer, auch des Dharma, der Rechtschaffenheit und gerechten Ordnung; 3.) Shiva, der Zerstörer, der auch den Neuanfang ermöglicht. Er trägt oft eine Schlange um den Hals und reitet auf einem Stier.
Prägend für den Hinduismus ist die Idee der Wiedergeburt als Tier, Pflanze oder göttliches Wesen je nach Karma: Gelingt es einem, sein Karma durch gute Taten zu verbessern – oder ähnlich der christlichen Erbsünde durch Leid abzuarbeiten -, wird man damit belohnt, dass man als höhere Lebensform reinkarniert; am Ende wird man gar nicht mehr wiedergeboren. Dann darf man ins Nirwana, das entspannende Nichts. Wie in jeder Weltreligion und anders als in Naturreligionen, die Geistwesen in den Alltag integrieren, geht es auch im Hinduismus theoretisch darum, das Blendwerk der diesseitigen Welt, Maya, als solches zu erkennen und es zu überwinden. Stattdessen soll man zu Atman, dem spirituellen Atem, der ewigen »Seele«, der Ganzheit gelangen, um die ewige Ich-Bezogenheit der Menschen zu überwinden. Zu den Schwächen des Hinduismus gehört dennoch der Mangel an sozialer Fürsorge für Arme, der die indische Gesellschaft bis heute prägt.
Abgesehen von der uferlosen Menge an Göttern und undurchsichtigen Texten, die den Brahmanen eine Monopolstellung garantieren, dürften die Hauptunterschiede zu anderen Religionen darin bestehen, dass im Hinduismus offiziell auf Gewalt und auf Missionierung verzichtet wird. Außerdem hat man eine lockerere Einstellung in Sachen Sex. Im Kamasutra , der Anleitung zur Ausbildung des Kama, des sinnlichen Genusses, steht der Sex dem wichtigeren Dharma (Rechtschaffenheit) nicht im Weg, sondern ergänzt es. Zwar ist der Hinduismus im Lauf der Jahrhunderte immer prüder geworden. Doch in keiner anderen Weltreligion finden sich
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