Was bisher geschah
zum gesellschaftspolitisch wirksamen Bestseller. In Zeiten des Umbruchs soll das alte Ritterideal, das Artus verkörpert, ein Stabilitätsfaktor sein. So zielt die Suche nach dem heiligen Gral bei Artus auf eine tugendhafte Lebensführung. Der Gral ist mit »golddurchwirktem Damast bedeckt«, kündigt sich mit Getöse und einem Sonnenstrahl an und wird von »der Gnade des Heiligen Geistes erleuchtet«. Demgegenüber ist der neue Gral der Bürger und Händler der soziale Aufstieg durch innovatives, unternehmerisches Verhalten.
Für eine Variante sozialer Mobilität und Befreiung ist im Mittelalter aber noch wenig Platz: Das Bild der Frau ist festgezurrt zwischen dem der sündigen Eva und der heiligen, aber lebensfernen Jungfrau. Zu den bekanntesten Frauen des Mittelalters, die auch beispielhaft für zeitgenössische weibliche Karrieren stehen, zählen Jeanne d’Arc, Hildegard von Bingen und Eleonore von Aquitanien. Eleonore (um 1122 – 1204) ist als Frau von Ludwig VII. und Heinrich II. nacheinander Königin von Frankreich und England, Mutter der zwei späteren Könige Richard Löwenherz und Johann Ohneland. Sie wird in politische Machenschaften verstrickt und zahlreicher Liebschaften bezichtigt. Ferner ist sie als »Königin der Troubadoure« bekannt, weil sie an ihrem Hof in Poitiers Künstler und Sänger fördert. Eine andere Art von Macht als die – zwischendurch verstoßene – Eleonore entfaltet die Benediktinerin Hildegard von Bingen (1098 – 1179). Sie beschreibt Volksheilmittel, gilt als eine der ersten Mystikerinnen des Mittelalters und wird wegen ihrer Visionen geachtet.
Besonders eindrücklich kann man sich die Rolle der Frau im Mittelalter anhand der tragischen und verrückten Geschichte von Jeanne d’Arc (um 1412 – 1431) vergegenwärtigen, der sogenannten Jungfrau von Orléans. Sie steht gewissermaßen zwischen Hildegard und Eleonore. Im Hundertjährigen Krieg gelingt es Jeanne, von einer göttlichen Vision getrieben, den Thronfolger Karl zu überzeugen, dass sie die französischen Truppen 1429 bei Orléans gegen die Engländer führen darf. Sie siegt. Doch dann gerät sie in Gefangenschaft der Burgunder, die mit England verbündet sind. Mit Duldung der Franzosen wird sie als Hexe verbrannt. Erst Jahrhunderte später erhebt man sie zur Nationalheldin. Man mag sich fragen, ob Jeanne wirklich ein einfaches Mädchen vom Land war und ob tatsächlich alles so spontan ablief, wie es oft heißt. Es bleibt offen, inwieweit ihr Coup nicht geplant oder zumindest hochstilisiert wurde – angeregt vielleicht durch Legenden über die wundersame Hilfe, welche die heilige Jungfrau tapfer kämpfenden Rittern in letzter Minute leistet. Bezeichnend ist jedenfalls, dass man ihr als Frau besonders misstraut – und sie massakriert, sobald sie Macht erlangt beziehungsweise ihren Zweck erfüllt hat.
So wie sich das Bild mittelalterlicher Helden über die Jahrhunderte wandelt, gilt dies für die Vorstellung, die man sich von der Epoche insgesamt macht: Nennen neuzeitliche Humanisten das Mittelalter die »mittlere Zeit«, weil sie – unattraktiv – zwischen Antike und Neuzeit liegt, schreibt Kardinal und Kirchenhistoriker Caesar Baronius zu Beginn des 17. Jahrhunderts in seinen Annalen über das 10. Jahrhundert: »Siehe, ein neues Saeculum beginnt, das man eisern, bleiern und finster nennt.« Bis ins 20. Jahrhundert kennt man die Zeit im Englischen als Dark Ages . Im Gegenzug romantisiert man das Mittelalter in Zeiten der Industrialisierung im 19. Jahrhundert als Epoche des guten alten Handwerks, des Glaubens, der Ideale und der Poesie.
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Die Miniatur aus Martin Le Francs Le champion des dames (um 1451) zeigt den Hexenflug. Zwar lobt Le Franc in seinem Buch die Frauen, ihre Fähigkeiten und Leistungen auf eine für das Mittelalter ungewöhnliche Weise. Doch die vermeintlichen Hexen kommen auch bei ihm schlecht weg.
Noch heute wird das Mittelalter besonders unterschiedlich interpretiert. Einerseits scheint die Epoche weit genug weg, um sie zu verklären. Zugleich ist sie nah genug, um als Projektionsfläche zu dienen. Hilfreich dabei ist, dass das Mittelalter eine große Bandbreite an faszinierenden Erfindungen bietet: Dazu gehören das Ritterideal, ein ausgeprägtes Seelenleben als Möglichkeit zur Flucht vor der Realität, die symbolische Rebellion durch Mode und Karneval, der Kreuzzug als Rechtfertigung für Angriffskriege. Aber auch ganz praktische Dinge sind zu nennen wie das Papier, der Buchdruck
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