Was bisher geschah
langfristig eine der wichtigsten Entwicklungen des Spätmittelalters einläutet: das Erstarken des städtischen Bürgertums. Es wird zur treibenden Kraft in Sachen Kapitalismus und neuzeitlichem Individualismus; beides wird dann in der Renaissance deutlich zum Tragen kommen. Die bis dahin üblichen mittelalterlichstandestypischen Regulierungen auch in der Arbeitswelt, zum Beispiel im Zunftwesen, werden nun durch ein freieres Agieren aufgeweicht. Dazu gehören neue Ideale wie Dynamik und Flexibilität, die im Mittelalter eher als dubios gelten. Ähnlich wie beim umfassenden Ausbau der katholischen Macht (griech. katholikos = »das Ganze, alle betreffend«) in den Jahrhunderten zuvor dient der Propagierung der neuen Ideale eine ganze Bandbreite an Mitteln und Medien. Sie reichen von einer selbstbewussten Selbstdarstellung reicher Kaufleute in der Kunst über frisch erdachte oder adaptierte Mythen und Legenden bis hin zur Mode, die sich als halbwegs individuelle Äußerung im heutigen Sinn im 14. Jahrhundert entwickelt.
Während das Bürgertum heute die (bürgerliche) Gesellschaft dominiert, hat es im Spätmittelalter einen schweren Stand. Schließlich ist einer seiner wichtigsten Berufe der des Kaufmanns. Da er wiederum auch Geld- und Kreditgeschäfte tätigt, gilt er wegen des Zinsverbots unter Christen als unseriös oder gar sündig. Erst 1515 erlaubt Papst Leo X. – der selbst aus der Händler- und Bankiersfamilie der Medici stammt – den Zins in bestimmten Fällen. Da die Gier gemäß dem christlichen Armutsgebot offiziell verwerflich ist und noch nicht als Motor für Innovation und die Förderung des Gemeinwohls umgedeutet worden ist, muss man sie verbrämen. Dazu dienen der biblisch motivierte Zehnt und Ablässe; Kredite tarnt man als Geschenke und Spenden. Bürgerliche Händler verbünden sich mit in Zünften organisierten Handwerkern und übernehmen in Städten wie London, Lübeck, Brügge und Florenz die Macht.
Nachdem sich ab dem 11. Jahrhundert in Frankreich und England Städtebünde bilden, entsteht als mächtige Kaufmannsvereinigung im 13. Jahrhundert die norddeutsche Hanse (Schar) mit Lübeck als Zentrum. Den zeitweilig weit über 100 Mitgliedsstädten von Hamburg bis Riga und Krakau geht es um Handelsprivilegien wie Zollfreiheit. 1370 besiegen ihre Truppen Dänemark zur Sicherung der Vormacht im Ostseeraum (Frieden von Stralsund). Flexibel wechseln sie aber auch die Bündnispartner, unterstützen Margarete I. von Dänemark, die mit Norwegen und Schweden eine skandinavische Großmacht in der Kalmarer Union anstrebt. Ein Hauptdruckmittel der Hanse ist das »Verhansen«, eine Blockade oder ein Boykott von wichtigen Warenlieferungen – ein Vorläufer weiträumiger Wirtschaftssanktionen späterer Jahrhunderte.
Im 16. Jahrhundert verliert die Hanse unter anderem wegen der Entdeckung Amerikas und der Verlagerung wichtiger Handelswege an Bedeutung; im 17. Jahrhundert löst sie sich auf. Im Rückblick bildet sie jedoch eine Avantgarde der Wirtschaftsmacht des städtischen Bürgertums. In spätmittelalterlichen Städten übt man bei Bürgermeisterwahlen, an denen natürlich nicht jedermann teilnimmt, sondern zum Beispiel Zunftmitglieder, Demokratie im Kleinen. In England entwickelt sich das Unterhaus, House of Commons, zum bürgerlichen Gegenstück des Oberhauses, dem House of Lords.
Es gibt übergreifende Faktoren, die den Aufstieg des Bürgertums begünstigen. So entzweit 1378 das große Schisma die westliche christliche Welt: Nachdem der Patriarch in Byzanz als Oberhaupt der christlich-orthodoxen Kirche schon ein Konkurrent für den weströmischen Papst ist, streiten sich nun auch noch die verschiedenen Fraktionen innerhalb der römisch-katholischen Kirche. Am Ende lassen sich zwei – zeitweise sogar drei – Päpste aufstellen, einer in Avignon, einer in Rom. Das Chaos lässt den Wunsch nach neuen Vorbildern aufkommen: Eine Alternative zu den Heiligen und Rittern ist der agile Kaufmann. Sogar bakterielle Faktoren begünstigen den Aufstieg des Bürgertums. Als ab 1347 die Pest in Europa wütet, mit rund 20 Millionen Toten ein Viertel oder sogar ein Drittel der Bevölkerung wegrafft und zu einem Arbeitskräftemangel führt, ist Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt gefragt. Leibeigene dürfen sich nun immer öfter freikaufen. Freisassen, Handwerker und Händler bieten flexibel ihre Dienste an. Demgegenüber scheint der Ritterstand mit Landgut und starrem Verhaltenscodex überholt. Der Adel verarmt, verdingt
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