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Was bisher geschah

Was bisher geschah

Titel: Was bisher geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Loel Zwecker
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entspinnt sich eine Diskussion darüber, ob Evas Lust und Sünde verständlich seien oder nicht: »Wir würden«, meint die junge Nonne, »ewig leben, hätte sie nicht den Lecker nach’nem Stück Obst verspürt. Aber wenn’s kein Sterben gäbe, so würden wir einander aufessen, und das Leben würde uns zum Ekel werden, und darum hat Eva wohl daran getan, dass sie den Apfel aß.« – »Das hat sie nicht getan, nein!«, schreien die anderen Nonnen.
    Bei aller Übertreibung kommt hier das frühneuzeitliche Denken zwischen alter Gottesfurcht und neuem Selbstbewusstsein zum Ausdruck. Das gilt auch für den Medienskandal, den Aretino provoziert, als er 1545 – sich direkt an den Künstler wendend – über Michelangelos Jüngstes Gericht in der Sixtinischen Kapelle schreibt: Man müsse »angesichts der Unanständigkeit, mit der Ihr die Märtyrer und Jungfrauen zeigt, und der Gebärde dessen, der hier an seinen Geschlechtsteilen ergriffen wird, selbst noch in einem Hurenhaus aus Scham den Blick senken«. Mit diesem wohl ersten Verriss der Kunstgeschichte entpuppt sich Aretino als Machiavelli der Kritik. Denn einerseits präsentiert er sich, indem er die Nacktheit in der Kunst verurteilt, als Moralapostel, und zwar womöglich mit dem Ziel, dadurch in der Kirche Fürsprecher zu gewinnen und vielleicht sogar das lukrative Kardinalsamt zu ergattern. Andererseits kann man, zumal wenn man Aretino als Libertin und Autor obszöner Geschichten kennt, vermuten, dass er sich mit seinem offenkundig aufgesetzten und übertriebenen Angriff gegen den Künstler indirekt über die Doppelmoral vieler vermeintlich strenggläubiger Christen lustig macht.
    Abgesehen von publizistischen Coups trägt zu Aretinos Ruhm auch bei, dass er sich als Autodidakt über alte Traditionen und Autoritäten hinwegsetzt: »Ich bin kein Sklave der Pedanten. Ich trete nicht in die Fußspuren Petrarcas oder Boccaccios.« Hatten die beiden Literaten im 14. Jahrhundert zusammen mit Dante immerhin die Volkssprache Italienisch beziehungsweise Toskanisch gegen das Lateinische stark gemacht, ist der Kontrast zu Aretino gerade mit Blick auf Dantes Werk Die Göttliche Komödie (1321) augenfällig: Bei Dante gibt es noch einen mittelalterlich geordneten Kosmos mit den Sphären Fegefeuer, Himmel und Hölle samt klar definierten Strafen.

     
    Bild 6
    Wie bei fast allen Figuren auf Michelangelos Jüngstem Gericht (1541) wurde auch Jesu Blöße auf Befehl des Vatikans übermalt. Den Auftrag übernahm Daniele da Volterra und ging so als »Höschenmaler« in die Kunstgeschichte ein. Selbst nach der aufwändigen Restaurierung von 1980 bis 1994 blieben die meisten der ursprünglich nackten Figuren bekleidet.
    Zwar wird natürlich schon vor Aretino Kritik geübt, aber in der Renaissance stellen sich verstärkt Einzelne hin, um ihre Meinung zu sagen, und berufen sich dabei weniger auf Gott oder Kaiser als vielmehr auf ihr Gewissen. Um sich in Zeiten von Zensur und Ketzerverbrennung nicht zu stark zu exponieren, wählen viele gleichwohl indirekte, verschraubte Formulierungen. Was heute manieriert oder hölzern wirkt, ist damals eine brandneue Kulturtechnik, die inzwischen selbstverständliche Taktiken wie die Verstellung und Rollenspiele beinhaltet. Die sind in dem Maß reizvoll, in dem sich das alte gesellschaftlich klar nach Ständen vorgegebene Rollenverständnis des Mittelalters darüber, wie sich ein Bauer, ein Adeliger und ein Geistlicher zu verhalten habe, auflöst.

Die Reformation – und die Entwicklung der Subkultur
     
    Wollte man Aretino mit heutigen Figuren vergleichen, müsste man ihn wohl irgendwo zwischen Bloggern und global agierenden Medientycoons ansiedeln. In seiner Zeit wirkt Aretino, was die innovative Nutzung von Medien und seine Selbstinszenierung etwa als »Condottiere der Feder«, als schreibender Söldnerführer betrifft, modern. Mit Blick auf seine boulevardeske Kirchenkritik könnte man ihn auch als Pendant eines inzwischen ungleich berühmteren Zeitgenossen sehen: Martin Luther (1483 – 1546). Luther setzt sich geschickt wie Aretino in Szene, verkleidet sich als Junker Jörg. Während Aretino seine Spottgedichte auf einem Platz in Rom anschlägt, publiziert Luther seine Kirchenkritik in Wittenberg der Legende nach an der Kirchentür – jedenfalls mit Hilfe der neuen Medien: gedrucktes Pamphlet und Buch.
    So wie Aretinos freizügige Ausdrucksweise schon bei Boccaccio und in Lorenzo Ghibertis Commentarii vorbereitet ist, so hatten Luthers

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