Was bisher geschah
Reformbestrebungen durchaus auch ihre Vorläufer: Anderthalb Jahrhunderte vor Luther lehrt der Oxforder Theologieprofessor John Wyclif (um 1330 – 1384) eine Rückbesinnung auf die Bibel, die er erstmals ins Englische übersetzt. Er lehnt den Heiligenkult, das Zölibat und die weltliche Macht der Bischöfe ab. Doch dann gerät er in die Mühlen der Politik, seine Schriften werden als ketzerisch verurteilt, er wird mundtot gemacht. Einfluss übt Wyclif allerdings auf den tschechischen Reformer Jan Hus (um 1370 – 1415) aus, dessen Anhänger noch Jahrzehnte nach seinem Tod in den Hussitenkriegen gegen kaiserliche und päpstliche Truppen kämpfen. Wie später Martin Luther mit seinem Volksdeutsch – und vor ihm Wyclif in Sachen Englisch – trägt Hus zur Entwicklung der Nationalsprache Tschechisch bei. Dennoch wird er als Ketzer verbrannt (und erst später als Nationalheld gefeiert).
Da hat Luther mehr Glück. Der Augustinermönch und Theologieprofessor ärgert sich über die Ablasspredigten des Dominikaners Johann Tetzel so sehr, dass er 1517 in seinen 95 Thesen die Zustände in der katholischen Kirche anprangert. Insgesamt erreicht er mit Pamphleten, die er an Fürsten verschickt, mit Schriften wie »Sermon von dem Ablass und Gnade«, die er bewusst in einfacher Sprache verfasst, und mit seiner deutschen Bibelübersetzung neuartig weite Teile der Bevölkerung. Er wendet sich gegen die Praxis des Freikaufs von Sünden durch Ablässe, ist für eine Reduzierung der Sakramente auf das Abendmahl und die Taufe, volkstümliches Liedgut und eine »reine, gute, gemeine Hausspeise«, in heutigen Worten eine ehrliche Küche mit regionalen Zutaten.
All das ist Luther lieber als der verfeinerte Bildungshumanismus des Kultur- und Kirchenkritikers Erasmus von Rotterdam, der sich in seinem Buch Lob der Torheit auch über den Klerus lustig macht, aber zur Reformation Distanz wahrt. Sollen bei Luther nach dem Grundsatz sola fide , sola gratia , sola scriptura allein der Glaube, die Gnade Gottes und die Schrift, die Bibel, als Autorität gelten, ist die Reform zunächst eine Rückbesinnung auf die Anfänge des Christentums. Zur Tendenz seiner Zeit hin zu mehr Individualismus und Eigenständigkeit passt Luthers Programm insofern, als jedermann fortan ein bisschen sein eigener Priester sein kann; professionelle Geistliche sind eher Facharbeiter mit Privatleben, Ehefrau und Kindern als scheinbar abgehobene Exzellenzen oder Heiligkeiten.
Luther kann sich auch dank der Unterstützung durch Fürsten, vor allem den Kurfürsten von Sachsen, Friedrich den Weisen, durchsetzen. Denn sie wollen nicht zahlen, als Rom unter Papst Leo X. zur Finanzierung ihres Luxuslebens und des Petersdoms europaweit einmal wieder besonders hohe Steuern fordert. Damit geraten sie mit dem Habsburgerkaiser Karl V. in Konflikt. Als König von Spanien und Bündnispartner des Vatikans gegen die Osmanen muss er den katholischen Laden zusammenhalten und hat mit seinen Kriegen gegen den französischen König Franz I. schon genug Probleme. So muss Luther, vom Papst 1521 gebannt, seine Thesen auf dem Reichstag von Worms verteidigen, wird aber auch nicht wirklich hart rangenommen. Mit den vielzitierten Worten »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders«, entscheidet sich Luther gegen den Widerruf seiner Meinung. Karl V. belegt ihn mit der Acht. Doch Luthers Auftritt macht Eindruck. Etwa auf den späteren König Christian III. von Dänemark. Vom dänischen Königreich aus wird der Protestantismus Skandinavien erobern. Auch dank der Verteilung von beschlagnahmtem katholischem Kirchengut an Adelige konvertieren diese bereitwillig zum Protestantismus.
Bei der Durchsetzung des Protestantismus greifen immer wieder wirtschaftliche, religiöse und emotionale Motive ineinander. Unter dem Schutz Friedrichs des Weisen übersetzt Luther auf der Wartburg das Neue Testament. Damit bringt er die deutsche Volkssprache voran, das deutsche Nationalgefühl – und vielleicht auch die sogenannte deutsche Innerlichkeit (»Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.«). Da Luther Veränderungen auf der religiös-konfessionellen und symbolischen Ebene bewirkt, die politischen Verhältnisse aber mehr oder weniger bestehen lässt, eignet sich seine Bewegung als Sozialventil. Unterstützt wird Luther vom Wittenberger Unikollegen Philipp Melanchthon, vom Humanisten Ulrich von Hutten, Künstlern wie Albrecht Dürer und der Malerfamilie Cranach. Letztere macht Luthers Gesicht mit Hilfe von Gemälden und
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