Was bisher geschah
für Brot abzweigen müssen, fühlen sich von der Revolution betrogen. Nach der Abschaffung des Feudalismus und des Zehnts muss man nun eine Pacht an die neuen, bürgerlichen Landbesitzer zahlen, die oft noch höher ist als die Abgaben zuvor. Wegen des Zensuswahlrechtes haben die Armen politisch weiterhin nichts zu sagen. Als die Aufständischen mit weißen royalistischen Kokarden Verwaltungsgebäude stürmen und Revolutionsvertreter töten, schickt Paris Truppen. Schätzungen zufolge sterben in dem blutigen Bürgerkrieg, der folgt, über 100 000 Menschen. Allein 2000 Aufrührer töten die Revolutionäre, indem sie sie im Winter gefesselt in die Loire werfen und so ertränken. Wenn sie Männer und Frauen aneinander binden, nennen sie es »republikanische Hochzeit«.
Da in ganz Frankreich keine Ruhe einkehrt, wird das fünfköpfige Direktorium schließlich 1799 von einem korsischen Militär namens Napoleon Bonaparte gestürzt. Trotz des Putsches ist er beliebt, weil er als Führer des Revolutionsheeres gegen die antirevolutionären Koalitionstruppen Österreichs und Preußens siegt. Seine Stärken sind der Kampf mit beweglichen Kolonnen statt starrer Schlachtreihen, das schnelle Erkennen von Schwächen beim Gegner samt entsprechendem Einsatz der Artillerie; außerdem weiß er seine Soldaten persönlich zu motivieren. Er erklärt die Revolution für vollendet. 1799 wird er zum Konsul, fünf Jahre später mit dem Segen des Papstes zum Kaiser. Er wird Europa im 19. Jahrhundert nachhaltig prägen.
Chaotische Zustände wie in Frankreich sind in Großbritannien, dem Mutterland der Revolution, zu diesem Zeitpunkt schwer denkbar. Dort findet parallel zur Französischen Revolution der zweite Riesenumsturz der Moderne statt: die Industrielle Revolution. Sie verändert das Alltagsleben so sehr wie zuvor wohl nur die Neolithische Revolution mit der Sesshaftwerdung des Menschen samt Etablierung von Ackerbau und Viehzucht ab etwa 10 000 v. Chr. Die in vieler Hinsicht gründlichste Revolution des 18. Jahrhunderts beruht auf Erfindungen wie der Spinn- und Dampfmaschine in den 1760er Jahren, kommt aber erst im 19. Jahrhundert voll zum Tragen. Zur Industriellen Revolution passen dann neue Denkerhelden wie Adam Smith, Hegel und Marx, die Diderot, Voltaire und Kant ablösen und in ihrer ökonomischen und soziologischen Ausrichtung frische Begriffe wie Wachstum, Mehrwert, Verelendung und Entfremdung in die öffentliche Debatte einführen.
KAPITEL ZWÖLF
Die globale Pubertät
Das 19. Jahrhundert: industrialisierung, imperialismus und Romantik – Wachstum und Verwandlung
Nachdem Meister der Geschichtsphilosophie wie Giorgio Vasari und Georg Wilhelm Friedrich Hegel ganze Epochen mit Lebensphasen wie der Jugend und Kindheit verglichen haben und dabei zu merkwürdigen Wertungen kamen, sollte man auch den modernen Begriff der Pubertät nicht leichtfertig auf das 19. Jahrhundert anwenden. Doch lassen sich mit ihm bildhaft wesentliche Qualitäten der Zeit hervorheben. Wie die Lebensphase der Pubertät ist die Epoche geprägt durch rasante Veränderungen, extremes und ungleichmäßiges Wachstum, die Entdeckung unerhörter Handlungsspielräume. Da dies neuartige Unsicherheiten und Verwirrung mit sich bringt, sucht man nach neuen, unverbrauchten Welterklärungen und Denksystemen.
Nachdem die Industrielle Revolution im 18. Jahrhundert einsetzt, verändert sie im 19. Jahrhundert das Alltagsleben radikal, die globale Vernetzung wird massiv ausgebaut. Mit der Verbreitung der Dampfmaschine, dem Ersatz der alten regenerativen Energieträger Wasser und Wind durch die fossilen Brennstoffe Gas und Kohle wird die bisherige Produktionsleistung um ein Vielfaches übertroffen. Bergwerke und Fabriken verändern das Gesicht ganzer Landstriche. Menschenmassen ziehen auf Arbeitssuche in die Städte. Neue Technologien bringen eine ungeheure Beschleunigung im Alltag mit sich. 1830 wird die erste längere Eisenbahnlinie zwischen Manchester und Liverpool eröffnet, Ende des Jahrhunderts das Auto mit Verbrennungsmotor erfunden. Thomas Edison baut in New York das erste Elektrizitätswerk, womit er seine Glühbirne zum Leuchten bringt. 1866 wird ein Telegrafenkabel durch den Atlantik verlegt. Bald brauchen internationale Nachrichten statt Wochen und Monaten nur noch Stunden und Minuten.
Auf derartige technische Entwicklungen antworten die Maler des Impressionismus mit rasant hingetupften Bildern, die viele als Geschmiere empfinden, als schockierend
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