Was bisher geschah
Novalis hinauskommen. Er steht insofern beispielhaft für das Denken des 19. Jahrhunderts, als er bei aller Auflösung des Bestehenden Gott und die Welt noch einmal in ein übergreifendes System einpassen will.
Was Hegels Blick auf die Geschichte betrifft, steht er zwischen Extremen des Jahrhunderts: einerseits Leopold von Ranke (1795-1886), der die moderne, auf ein kritisches Quellenstudium gestützte Geschichtswissenschaft begründet; andererseits Friedrich Nietzsche, den dieser Historismus langweilt. In Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) betont Nietzsche, man solle nicht wie ein Tier im »immer wiederholten Wiederkäuen« der Geschichte leben. Nietzsche denkt sich Alternativen wie den »Übermenschen« aus, der von der christlichen »Sklavenmoral« befreit ist. Hegel findet eine kompliziertere Art, Geschichte und Geist kurzzuschließen. So vergleicht er in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (gehalten 1822/23 und 1830/31) Chinesen mit Kindern und meint, der »Zweck« des »germanischen Geistes« liege in der »Realisierung der absoluten Wahrheit«.
Zur Realisierung der Wahrheit bedarf es einer neuen Form der Philosophie. Als Hegel im Oktober 1807 in einer selbst geschalteten Anzeige in der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung sein frisch gedrucktes Hauptwerk Phänomenologie des Geistes ankündigt, erklärt er denn auch: »Dieser Band stellt das werdende Wissen dar.« Er will das Denken selbst vorführen und das Bewusstsein formen. In Zeiten, in denen David Friedrich Strauß in Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835) Christus als Mythos fasst, versucht Hegel Gott durch den »absoluten Geist« und das »absolute Wissen« zu ersetzen; dafür muss die Sprache selbst beweglich sein (»Selbstbewegung des Begriffs«) und auf der Höhe der Zeit. So »bildet« sich der Geist bei Hegel, indem er sich selbst »entfremdet«. Da gibt es das »ununterschiedene Gleichnamige«, das »auf eine Seite tretende Extrem des Fürsichseins «, die »Entäußerung« und »Aufhebung«. Aufhebung ist Hegels Zauberwort zwischen Auflösen, Bewahren und Emporheben, mit dem man im Geiste Unstimmigkeiten beseitigen kann, um Synthesen zwischen scheinbar unvereinbaren Antithesen durchzuführen.
Hegels Uni-Konkurrent Schopenhauer tut das als »hohlen Wortkram« ab, Karl Marx später als »Mystik«. Doch mit seinem überspannten Schreiben, dem Mut zu gewagten Behauptungen beeinflusst Hegel unter anderem Marx. Dialektisch wie die alten Griechen, aber kopflastiger sucht Hegel nach neuen Weltsystemen. Dass dieses Projekt in Anbetracht der Widersprüche des Lebens scheitern muss, macht nichts; wie in der Pubertät geht es um den Prozess und darum, die Grenzen der Sprache – und die Geduld anderer – auszutesten. Die Herangehensweise inspiriert im 20. Jahrhundert Philosophen wie Theodor W. Adorno, Jean-Paul Sartre, Jacques Derrida und Gilles Deleuze, unabhängig davon, ob sie ihre Philosophie als Alternative zu Hegel sehen.
Eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen Hegel und zeitgenössischen Geistesgrößen ist die Faszination, die Napoleon auf ihn ausübt. Hegels Landsmann und Jahrgangskollege Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) widmet Napoleon seine Symphonie Eroica . Nach Napoleons Kaiserkrönung meint er allerdings, der Franzose habe die Revolution verraten, und entfernt deshalb die Widmung, angeblich mit dem Kommentar, Napoleon sei auch nur ein gewöhnlicher Mensch, ja ein Tyrann. Demgegenüber soll Hegel Napoleon »Weltseele« oder »Weltgeist« genannt haben. Vielleicht ähneln Hegel und Napoleon einander in ihrem ambivalenten Idealismus und im umfassenden Anspruch. In Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte heißt es: »Napoleon, als er einst mit Goethe über die Natur der Tragödie sprach, meinte, dass sich die neuere von der alten wesentlich dadurch unterscheide, dass wir kein Schicksal mehr hätten, dem die Menschen unterlägen, und dass an die Stelle des alten Fatums die Politik getreten sei.«
Abgesehen davon, dass das Gespräch zwischen Napoleon und Goethe wohl nicht so stattgefunden hat, ist Napoleons Politik durchaus schicksalhaft. Ein Jahr nachdem England sich mit Admiral Nelsons Sieg am Kap Trafalgar an der südspanischen Atlantikküste am 21. Oktober 1805 gegen Frankreich die Vorherrschaft über die Meere sichert, beschließt Napoleon die Kontinentalsperre. Er verbietet die Einfuhr britischer Waren und die Ausfuhr von Getreide. Darauf reagiert England mit der Sperre und
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