Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
verstehe, meint also nicht eine modern-autonome »Politik ohne Normen«, aber auch nicht eine quasi mittelalterlich-heteronome »Politik nach Normen«. Vielmehr plädiere ich auch hier für einen Mittelweg der verantworteten Vernunft zwischen zwei Extremen:
Das eine Extrem ist ein unverantwortlicher Machiavellismus und Libertinismus (exemplarisch der frühere italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi), der in der Politik wie im persönlichen Leben meint, auf alle ethischen Grundsätze, Maßstäbe und Maximen verzichten zu können, der sich einfach nach der gerade gegebenen und ja auch immer wieder wechselnden Situation orientieren will: eine Entscheidung nur auf den anstehenden Fall ausgerichtet, rein aus dem gegenwärtigen Moment heraus. Auch Versprechungen und Verträge gelten in solcher Sicht nur »rebus sic stantibus«, solange die Dinge sind, wie sie sind. Bei veränderter Situation ist Vertragsbruch selbstverständlich. Loyalitäten und Allianzen sind ohnehin wechselnd.
Das andere Extrem ist ein unvernünftiger Legalismus und Dogmatismus , der sich in Politik wie persönlichem Leben unbekümmert um die betreffende Situation unflexibel einfach an den Buchstaben des angeblich göttlichen Gesetzes halten will (Exempel liefern die Restaurationspäpste Wojtyla und Ratzinger). Kirchenpolitische Grundsätze, Maßstäbe und früher vielleicht sinnvolle Maximen wurden – bezüglich Empfängnisverhütung, Kondomgebrauch und Bevölkerungspolitik bis hin zu Abtreibung und Sterbehilfe – zu unfehlbaren, ausnahmslosen, in jeder Situation bedingungslos geltenden kirchlichen Gesetzesparagraphen.
Statt Thetik oder Taktik eine verantwortete Gewissensentscheidung
Die Verantwortung hat mehrere Dimensionen: Ich bin verantwortlich anderen Menschen gegenüber, verantwortlich gegenüber mir selber, meinem Gewissen gegenüber, als religiöser Mensch verantwortlich gegenüber Gott. Auch für den Politiker gibt es Situationen, in denen Luthers »Hier stehe ich und kann nicht anders!« gilt, eben eine ganz persönliche Gewissensentscheidung fällig ist. Prinzipiell ist der ethische Imperativ zweifellos immer situationsbezogen. Doch in einer bestimmten Situation kann er durchaus kategorisch sein, eine Gewissensverpflichtung ohne jegliches Wenn und Aber, nicht hypothetisch, sondern unbedingt. Für die politische Ethik bedeutet dies alles:
– Politische Ethik meint nicht die unflexible doktrinäre Thetik von Dogmatikern, die jeden Kompromiß ablehnen: Ethische Normen ohne Berücksichtigung der politischen Situation sind kontraproduktiv; ethische Entscheide sind immer konkret.
– Politische Ethik meint nicht die gewiefte clevere Taktik von Opportunisten, die für alles eine Entschuldigung haben. Wenn eine politische Situation nicht mehr an ethischen Normen gemessen wird, hat dies Gewissenlosigkeit zur Folge. Taktisch-strategische Überlegungen auf Kosten ethischer Prinzipien können auch politisch teuer zu stehen kommen.
– Politische Ethik meint statt dessen eine Gewissensverpflichtung , die nicht auf das abstrakt Gute oder Richtige, sondern auf das konkret Gute oder Richtige zielt: eben das in einer bestimmten Situation Angemessene, in dem sich eine allgemeine normative Konstante mit einer besonderen situationsbedingten Variablen verbindet. Verantwortungsethik und Prinzipienethik, die sich von Machiavellismus und Prinzipienreiterei fernhalten, können kooperieren. Nur so ist Gewähr gegeben, dass die drei Qualifikationen, die Max Weber vom Politiker verlangt – Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß –, richtig zur Anwendung kommen.
Doch politische Ethik bezieht sich keineswegs allein auf politisch handelnde Individuen, sondern auch auf die institutionellen und kollektiven Akteure der Politik, und dies nicht nur auf der lokalen und nationalen Ebene, sondern in der globalen Perspektive. Denn:
Keine globale Politik ohne globales Ethos
Auch in der »realistischen« Politikwissenschaft wird man immer mehr auf das Problem der globalen ethischen Verantwortung aufmerksam, die selbstverständlich nicht nur für die Führungselite gilt. Als ich im Jahre 1990 das Buch »Projekt Weltethos« veröffentlichte, konnte ich kaum auf Dokumente von Weltorganisationen zu globalen ethischen Prinzipien verweisen. Schon drei Jahre nach Erscheinen von »Projekt Weltethos« kam es zur Proklamation der Weltethos-Erklärung des Parlaments der Weltreligionen (1993). Und wiederum vier Jahre später, als ich eine
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