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Was Bleibt

Was Bleibt

Titel: Was Bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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mich an den Schreibtisch, Foltertisch. Standen sie noch da? Sie standen nicht mehr da. Das flaschengrüne Auto war weg. Sie hatten es aufgegeben. Sie hatten sich endlich überzeugt, daß...
    Vier Plätze weiter nach links stand das weiße Auto, besetzt mit zwei Mann. Alles, wie es sich gehört.
    Es war fünfzehn Uhr.
    Durch das rechte Erkerfenster konnte ich die Friedrichstraße bis zum S-Bahnhof überblicken, durch das linke Erkerfenster bis zur Oranienburger. In beiden Richtungen das Geschiebe der Menschen. Tausende von ahnungslosen Landsleuten, die Stunde um Stunde zwischen mir und dem weißen Auto da drüben vorübergingen, die es nach Hause zog oder zu ihrer Arbeitsstelle oder zu ihrer Geliebten oder zu ihren Geschäften. Die ihr normales Leben, das an ihnen haftete, überallhin mitnahmen.
    Solange ich nicht bereit wäre, mit irgendeinem von ihnen zu tauschen, war mein Hochmut ungebrochen, und die Hauptbelehrungen standen mirnoch bevor. Oder ihnen? Die Fremdheit, die mich von der Menge trennte, glaubte ich, trennte die Menge auch von sich selbst.
    So hatte ich noch nicht gedacht, aber die Zeit schien gekommen, so und noch ganz anders zu denken. Anders und anderes. Die Menge nicht immer nur als unfehlbar, als Richter, als übergeordnet; als die vielen, die es besser wissen, die ich nicht mißachten, kränken, ignorieren durfte; als die große Masse, die im Zweifelsfalle immer recht hatte. Da ging sie an meinem Fenster vorbei, wußte nichts und hatte nicht recht noch unrecht, denn sie war eine Konstruktion. Und war es nicht denkbar, daß es nicht auf sie ankam, sondern auf die einzelnen Menschen, die ja und nein sagen konnten, den Arm automatisch heben oder die Zustimmung verweigern, auf Weisung den ersten Stein werfen oder das Urteil nicht anerkennen. Ob es nicht auf jeden dieser vielen da unten einzeln ankam, zum Beispiel auf dieses Mädchen, das sich eben zwischen dem weißen Auto und dem danebenstehenden schwarzgelben durchwand, das jetzt quer über den Rasenstreifen ging, der Parkplatz und Bürgersteig voneinander trennt, das an der Fußgängerampel warten mußte und nun zielstrebig die Fahrbahn überquerte. Ein Mädchen wie Tausende, nicht groß, weder dünn noch dick, mit sehr kurz geschnittenem braunen Haar und einem bräunlichen Gesicht. Grüne Kutte, die Tasche über die Schulter gehängt.
    Man mußte nur einen einzelnen ins Auge fassen, schon war man seine Angst los.
    Ich mußte mich fertig machen, die Tasche für H. packen, die Schuhe anziehen, in knapp einer halben Stunde begann im Krankenhaus die Besuchszeit. Es klingelte. Sehr zur unrechten Zeit, sagte ich mir, um meinen Schreck vor mir selber zu überdecken. Wer klingelte? Heute? Bei mir? Am besten, man machte gar nicht erst auf. Ich schlich durch den Flur, lauschte an der Tür. Die Kette vorlegen? Unsinn. So fängt es an.
    Zuerst dachte ich an eine Sinnestäuschung. Draußen stand das Mädchen, das ich eben die Straße hatte überqueren sehen. Sehr kurzes braunes Haar. Braunes Gesicht. Kutte. Umhängetasche.
    Wer schickte die? Da sah sie mich an, und ich begann mich zu schämen. So unbefangen wie möglich bat ich sie herein. Mit diesem Mädchen trat etwas mir vom Ursprung her Verwandtes und zugleich ganz und gar Fremdes über meine Schwelle. Man konnte ihm – wie jung es war! Zwanzig? Zweiundzwanzig? – nicht sagen, es solle doch seine Kutte ausziehen. Das Mädchen nannte seinen Namen, der mir entfernt bekannt vorkam, und mein Gefühl verdichtete sich, daß dieses Mädchen meine Wohnung nie mehr verlassen würde. Ich zog nicht, wie es vernünftig gewesen wäre, im Vorbeigehen den Telefonstecker heraus, ich riskierte es, dieses Mädchen in meinem Zimmer, an meinemrunden Tisch in die womöglich abhörbereiten Mikrophone über sich sprechen zu lassen, denn dazu war es gekommen, das hatte ich gleich begriffen. Durch ein paar schnelle Fragen und Antworten wurde klar, daß der Name dieses Mädchens wirklich mit einer bestimmten Affäre an einer bestimmten Universität, im Zusammenhang mit Denunziationen, mit Verfahren und Erpressungen aufgetaucht war, daß wirklich sie es war, die man damals vom Studium ausgeschlossen hatte, da sie nicht zu den Erpreßbaren gehörte.
    Richtig, ja, ich erinnerte mich an diese Geschichte, die ich vom Hörensagen kannte, aber die war doch – wie lange her? Ein Jahr? Zwei Jahre? Ja. Aber, sagte das Mädchen nun, beinahe beiläufig und gewiß nicht, um damit zu protzen, danach habe eine zweite Affäre sie für ein Jahr

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