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Was Bleibt

Was Bleibt

Titel: Was Bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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er womöglich hinter seinem Brief an mich abheften, im gleichen Aktenstück.
    Na und? Tun wirs zu den Kuchenkrümeln.
    Zum zweiten Mal an diesem Tag klingelte das Telefon. Eine Frauenstimme. Warum ist die so aufgeregt, fragte ich mich, noch ehe ich wissen konnte, mit wem ich sprach. Sie war aufgeregt, weil sie für den Abend Komplikationen fürchtete. Sie war die Kollegin K. vom Kulturhaus, die mich zu meiner Überraschung für diesen Abend zu einer Lesung eingeladen hatte, und sie wollte nun wissen, ob ich nicht eine halbe Stunde vor Beginn erscheinen könnte.
    Gewiß, sagte ich, aber warum?
    Um jede Gefahr, daß es zu unliebsamen Zwischenfällen kommen könnte, abzublocken.
    Sie hatte »abblocken« gesagt. Es war die Sprache, es war der Tonfall, die mich ins Schwitzen brachten. Welche unliebsamen Zwischenfälle denn, fragte ich munter.
    Frau K. bereute schon ihre Ausdrucksweise, sie wiegelte ab. Ach, nichts Besonderes. Nur so im allgemeinen.
    Darauf ließ sich nun nichts mehr sagen, außer: Ist gut. Ich komme früher. Dann mußte ich den Hörer auflegen. Ich witterte Unrat.
    Jetzt war es nach zwölf. Standen sie noch da?
    Sie standen da.
    Also essen wir etwas. Man sollte an solchen Tagen nicht allein sein müssen.
    Allein? Fast nichts konnte ich mehr denken oder sagen, ohne meinen Zensor gegen mich aufzubringen. Wenn du mit diesem selbstmitleidigen Geflenne nicht aufhörst...
    Nun, nun. Übrigens gebe ich dir recht. Ich werde, du weißt schon, wen, ohne Vorbehalte in meine Küche lassen. Ich werde nicht vergessen haben, was ich heute über ihn gedacht habe. Ich werde ihm aber glauben, daß er an mir hängt. Und wer soll ihn da herausholen, wenn nicht einer, an dem er hängt. – Wenn er wirklich heraus will. – Wenn er wirklich drinsteckt. – Einer muß es ja sein. Hastdu vergessen, wie viele Angriffsflächen er ihnen bietet? – Ach scher dich doch zum Teufel mit deiner bigotten Moral.
    Vielleicht hatten wir doch nicht einen der allerschwächsten Tage erwischt.
    Ich wärmte mir die Rindfleischsuppe vom Vortag und aß achtlos, dabei hörte ich die gleichen Nachrichten wie am Morgen. Vom Hof her kamen jetzt Kinderrufe, aus dem fünften Stock des Nebengebäudes, das meiner Küche gegenüberliegt, antwortete Schlagermusik, gleich würde Frau G. mit ihrer grünen Mütze erscheinen und sich erbittert gegen den Lärm zur Wehr setzen. Sie tat es.
    Ich stand wieder am Schreibtisch, hatte es aber vermieden, aus dem Fenster zu sehen. (Sie waren noch da.) Ich setzte mich und begann, die Eintragungen in meinem dicken grünen Taschenkalender nachzuholen, die ich in den letzten Tagen versäumt hatte. Einmal würde ich in einem Zimmer sitzen – ich stellte es mir kahl vor, ein normales Bürozimmer –, und man würde mir Fragen stellen. Fragen verschiedenen Grades, darunter unverfängliche; ich aber hatte mir vorgenommen, auf keine einzige Frage zu antworten und würde mich daran halten (o deine Einbildungen, Schwester!). Dann, nach ein, zwei oder zwanzig Stunden – sprach man nicht von Verhören, die über Tage gingen, mit kurzen Pausen? – würde mein Verhörer dieses dicke grüneNotizbuch hervorziehen, in das ich gerade gewissenhaft eintrug, was ich heute, gestern, vorgestern getan, gelesen, gehört, wen ich gesehen hatte, sogar welches Wetter mir aufgefallen war. Nun, würde mein Verhörer sagen – er würde bis zu den Fragen dritten, auch vierten Grades sehr höflich bleiben und erst bei den Fragen fünften Grades ganz plötzlich sehr grob werden, aber ich wäre darauf gefaßt und würde auch der Grobheit standhalten, ihr vielleicht sogar leichter als der Höflichkeit (Schwester! Schwester...): Nun, würde er sagen. Reden wir Klartext. Und er würde mir aus meinem eigenen Notizbuch mit meinen eigenen Worten auf jede Frage die Antworten vorlesen, die ich eben noch so stolz verweigert hatte. Und nun, Herr Neunmalklug, kannst du mir erklären, warum ich trotzdem alle diese Eintragungen mache, außer aus Stolz, Tollkühnheit, Hochmut?
    Weil du denkst: Sie werden es nicht wagen.
    Schweigen.
    Jetzt mußte ich zum Telefon gehen, wählen, lauschen. Hab ich dich etwa geweckt, sagte ich, etwas zu schuldbewußt. Nein, sagte meine jüngere Tochter. Aber sie frühstücke gerade. – Was denn. – Die Aufzählung war lang und wurde gebilligt: Das sei also, was sie »Frühstück« nenne. Andere Leute würden sich davon zwei Tage ernähren. – Dafür esse sie dann auch zwei Tage lang nichts. – Dies sei ja das Unglück. – Sie

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