Was danach geschah
Abigail Cuttler«, sagte er. »Andere treffen, die ein Interesse am Ausgang des Falls haben. Komm mit, es wird nicht lange dauern.«
Ich vermutete, er würde mich zu Bo und vielleicht zu meinem Vater und meiner Mutter bringen, doch stattdessen öffnete er das Portal seiner nicht sehenden Augen, um uns zur schrecklichen Sintflut am Cudi Daği zu führen.
Blitze zucken über den Himmel, Donner krachen. Elymas ist mir an der Klippe ein Stück voraus. Das Wasser steigt meterweise an, nicht nur in Zentimetern, und die Wellen unter uns überschwemmen die Hügel und schlucken alles, was sich ihnen in den Weg stellt.
»Wir werden ertrinken!«, rufe ich die Klippe hinauf. Regen prasselt auf mein Gesicht.
»Keine Sorge, Brek Cuttler!«, ruft Elymas zurück. »Der Cudi Daği ist zweitausendeinhundert Meter hoch. Noah fand hier Zuflucht. Komm schnell weiter.«
Wir drücken unsere Wangen für das letzte Stück an den Berg. Weniger als ein Drittel liegt noch vor uns. Elymas rammt seine knochigen Finger wie eine Hacke in die Felsspalten. Nur einmal verliert er den Halt und damit auch seine vierfüßige Krücke, die auf dem Weg nach unten zum tosenden Meer gegen die Felsen schlägt. Ich halte Abstand zu ihm aus Angst, er könnte mich bei einem Absturz mitreißen. Ich bin jetzt so alt und verbraucht wie Elymas, bewege mich langsam und vorsichtig, schnappe nach Luft und muss oft eine Pause einlegen. Wie eine verkrüppelte Ziege klettere ich den Berg hinauf, mit dem Stumpf meines rechten Arms halte ich mein Gleichgewicht, ohne dass ich durch meinen grauen Star erkennen kann, wohin ich als Nächstes greifen soll. Meine Kleider lösen sich zu einer Masse aus Fäden und Farbe auf, die in meinen Hautfalten klebt.
Auf dem Gipfel steht ein Kloster aus Holz, Lehm und Stroh, den ringförmigen Steingarten zieren Sandstein, Quarz und Marmor. Der Steilabbruch hinter dem kleinen Gebäude würde bei schönerem Wetter einen wunderbaren Ausblick auf die niedrigeren Berge und die Ebene von Ararat bieten. Am anderen Ende befindet sich ein in die graue Basaltkante gemeißeltes Monument. Es ist die Abbildung eines riesigen Bootes, das in stürmischer See auf Grund gelaufen ist und unter den sinnenden Schwingen eines Raben und einer Taube auf Rettung wartet. Auf dem Deck des Bootes drängt sich eine Herde Tiere, die das Glück hatten, der Flut zu entkommen – niedere Säugetierarten und Reptilien aus jeder Spezies, immer paarweise. Am Bug stehen demütig ein Mann und eine Frau.
Elymas schiebt mich ins Kloster, wo eine kleine Kapelle von einem Feuer beheizt wird, das in einem steinernen Kamin ohne Holz brennt. Ein Halbkreis aus grobgezimmerten Stühlen steht vor der Feuerstelle, und dazwischen steht ein kleiner, rechteckiger Tisch, der den Mönchen als Essplatz und Altar dient. In der Mitte des Tisches steht eine ungewöhnliche Menora, deren Bronze schwarz angelaufen ist. Ein Kruzifix, bei dem ein Arm fehlt wie bei dem, das mein Onkel Anthony trug, ist am Fuß und dem untersten Arm des Leuchters befestigt. In einer erhabenen Geste streckt der König der Juden seinen Arm entlang der breiten Wölbung des Leuchters nach oben.
Elymas drängt mich durch einen engen Vorraum vorbei an den Mönchszellen. Die Betten in diesen Zellen, einfache Holzbretter, hängen an Eisenketten an der Decke. Wir betreten die Küche, die mit einem kleinen Arbeitstisch, einer vom Regenwasser überlaufenden Zisterne und drei Holzfässern voller getrockneter Früchte und Nüsse ausgestattet ist, als wäre das Kloster vor kurzem noch bewohnt gewesen. Als wir aus der Küche in die kleine Kapelle zurückkehren, sind alle Stühle in dem Halbkreis bis auf einen von Mönchen in braunen Kutten besetzt. Ihre Gesichter sind auf den Altar mit der seltsamen Menora gerichtet, auf ihren Schößen liegen Laptops, in die sie ehrerbietig starren, den Rücken wie zum Gebet gebeugt. Das Licht der Bildschirme lässt ihre Gesichter aussehen wie die von Heiligen auf einem mittelalterlichen Gemälde.
Wir gehen um sie herum, um uns ihre Gesichter anzusehen. Überrascht stelle ich fest, dass der erste Mönch eine Frau ist – Karen Busfield, die unter ihrer Kutte ihre blaue Uniform der Luftwaffe trägt. Um ihren Hals hängt die weiße Leinenstola, die ich mit einem goldenen Alpha und Omega bestickt und ihr zu ihrer Ordination geschenkt habe. Es ist ein einfaches, konservatives Kleidungsstück ohne die bunten kirchlichen Ornamente, die sie so mag, aber mehr habe ich mit nur einer Hand nicht
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