Was danach geschah
geschafft. Sie trug die Stola, als sie mich und Bo traute, und dann wieder bei Sarahs Taufe, wollte sie mir aber an dem Tag zurückgeben, an dem Bill Gwynne und ich ihr rieten, das Angebot der Regierung anzunehmen, die Anklage wegen Hochverrats und Spionage im Tausch gegen ehrenhafte Entlassung und Ende ihrer Dienstzeit fallen zu lassen. Sie hätte sich nur des unbefugten Betretens von Regierungsgebäuden schuldig bekennen und versprechen müssen, das, was im Raketensilo passiert war, für sich zu behalten. Ich trete zu ihr und berühre ihre Schulter.
»Karen, ich bin’s, Brek. Was tust du hier?«
Sie blickt von ihrem Rechner auf, erkennt mich aber wegen meines Alters nicht mehr. Ihre Wangen sind mit dem Salz getrockneter Tränen gepudert. Draußen tobt der Sturm. Die Holzbalken versteifen sich wie der gepeinigte Rücken eines Flagellanten, der sich selbst mit der Peitsche bestraft. Karen schließt ihre Augen und stimmt leise ein Lied an.
Neben Karen sitzt meine Schwiegermutter, Katharina Schrieberg-Wolfson, der zweite Mönch von Cudi Daği. Sie hält zwei Fotos seitlich an ihren Rechner. Das erste ist ein Bild von Sarah, ihrer Enkelin, das zweite eine Schwarzweißaufnahme von ihrem Vater, Bos Großvater, der vor einem seiner Theater in Dresden steht. Katharina Schrieberg-Wolfson, die gebannt vor ihrem Rechner sitzt, weint nicht. Sie hat in ihrem Leben zu viel Leid erfahren, um noch weinen zu können. Sie bedauert nur, dass sie Amina Rabun nie erzählte, dass an diesem dunklen Tag in Kamenz, an dem Gott sein Gesicht gleichermaßen von Christen und Juden abwandte, ihr Vater, Jared Schrieberg, derjenige war, der die Schüsse aus dem Wald abgegeben und damit die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich gelenkt hatte.
»Arme Amina!«, ruft sie. »Aber ist es nicht ein Segen, dass sie nicht so lange lebte, um mit ansehen zu müssen, was ihr einziger Erbe angestellt hat? Ach, und jetzt bezahlen meine kostbare Enkelin und meine Schwiegertochter für unsere Sünden! Wann wird das ein Ende haben?«
Auch Katharina lässt sich nicht anmerken, ob sie mich erkennt. Stattdessen blickt sie misstrauisch zum Mönch links neben sich, Albrecht Bosch, der mit tintenverschmierten Fingern wie ein Wahnsinniger auf seiner Tastatur tippt. Bosch weint heftig wie ein Vater um seinen Sohn und fleht den Bildschirm vergeblich an: »Nein! Nein! Nein!«
Albrecht Bosch dachte, er hätte Otto Bowles’ Leiden verstanden und ihm den Weg gezeigt, indem er mit ihm über seinen eigenen Kummer gesprochen hatte. Er war für Otto als Freund da gewesen, als der Vater, der er nie sein würde und den Otto nie gehabt hatte. Jetzt schickt Bosch eine weitere E-Mail an Otto, in der er ihn eindringlich bittet, die Waffen zu strecken. Doch die Zeit für Albrecht Boschs letzten Einspruch ist verstrichen. So ist er wieder allein in einer Welt, die ihn eigentlich nie willkommen hieß.
Auf dem Stuhl neben Bosch verfolgen Tad Bowles und Barbara Rabun ungläubig das Drama auf ihren Rechnern. Beide sind besorgt, aber nicht wegen ihres Sohnes, sondern wegen der Schwierigkeiten, die sein Verhalten ihnen in ihrem Leben bereiten wird. Tads Sorge ist sein Ruf. »Mein Name wird auf immer und ewig mit einem Mörder in Verbindung stehen!«, schimpft er.
Auch Barbara Rabun plagt sich mit Namen herum, doch in einer ganz anderen Weise. Sie bedauert, dass sie die Gelegenheit versäumte, einen Namen zum Leben zu erwecken, statt die Notwendigkeit zu erkennen, einen Namen zu beerdigen. Dieser Name, Rabun, ist nun beschmutzt bis zur Unkenntlichkeit, und mit ihm ihr Traum von einer Familie, die bereits vor langer Zeit gelebt hatte und noch einmal in den Körpern ihrer Kinder und Enkel atmen sollte. »Warum?«, fleht sie den Himmel an. »Wieso habe ich sie schon wieder verloren? Das zweite Mal im selben Leben?«
Auf dem Rechner auf ihrem Schoß, in dem sie einst diesen kostbaren hoffnungsvollen Traum hegte, erscheint eine Nachricht, die besagt, ihr Traum sei tatsächlich für immer verloren. Und diese Nachricht bestätigt ihr, was ihre Cousine Amina schon vor langer Zeit verstanden und erklärt hatte – dass Gott die Familie Rabun aus Kamenz nie mit seiner Gnade beschenken würde. Barbara klappt ihren Rechner zu und wirft ihn ins Feuer. Diesem unversöhnlichen Gott, dessen perverses, bedeutungsloses Relikt auf dem Altar vor ihr steht, wird sie nicht länger ihre Ergebenheit gewähren.
Der Stuhl in der Mitte des Halbkreises ist leer, daneben sitzt Harlan Hurley in einem orangen
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