Was danach geschah
Gefängnisoverall unter seiner braunen Kutte. Er grinst von einem Ohr zum anderen, als beschäftige er sich mit einem Computerspiel und gewinne mit jedem Zug. Die Ereignisse entwickelten sich auf eine Weise, die er selbst in seinen großartigsten Träumen nicht hätte voraussagen können. Der Skandal, dass er Geld vom Schulbezirk umleitete, um Die Elf und den Dokumentarfilm zu unterstützen, sorgte dafür, dass sein Faschistendrama auf den Titelseiten jeder größeren Zeitung und in allen Nachrichtensendungen und Talkshows zum Thema wurde. Getäuschte Unterstützer überfluteten den Äther mit Worten der Unterstützung und schickten Geldspenden per Post.
Neben Hurley sitzen meine armen Eltern, die Augen ängstlich und ungläubig auf ihre Rechner gerichtet. Sie bemerken nicht, dass ich neben ihnen stehe. Wie lässt sich der Schrecken von Eltern beschreiben, die den Mord an ihrer eigenen Tochter und ihrer Enkelin mit ansehen müssen? In ihren von Trauer gezeichneten Gesichtern erkenne ich die unermessliche Freude der ersten Augenblicke meines Lebens – das glückselige Staunen und das Wunder, das aus einer Geburt und deren Verletzlichkeit erwächst, um einer zynischen Welt aufs Neue zu erklären, dass die bedingungslose Liebe existiert. Das Geschenk dieser Liebe konnte ich nicht ertragen, als ich älter wurde. Ich redete mir ein, dieser Liebe nicht würdig zu sein, selbst dann nicht, als ich sie mit der Geburt meiner eigenen Tochter verströmte. Doch auch jetzt ist sie da, ergießt sich aus den erschütterten Gesichtern meiner Eltern, peitscht gegen die Bildschirme in dem sinnlosen Versuch, mich vor Schaden zu bewahren und das untergehende Objekt unendlicher Gnade zu schützen.
Die digitalen Uhren am unteren Rand der Rechner zeigen alle den 17. 10. 1994, 04:02:34 an. Die Bildschirme flackern hell, als würden sie gleich in Flammen aufgehen, dann zeigen sie mich, wie ich die blutende, leblose Sarah im dämmrigen Licht des Pilzhauses halte. Wie in einem Stummfilm schreie ich, ohne einen Ton von mir zu geben. Die Waffe fällt mir aus der Hand. Otto Bowles mit einem Loch in seinem Bein rutscht darauf zu.
Die Bildschirme können nicht zeigen, was Otto Bowles in diesem Moment denkt, doch ich weiß es. Seine Seele ist jetzt meine, und wir sind auf ewige Zeiten zu einer verschmolzen. Er denkt an Amina, Barbara und die Familie Rabun aus Kamenz. Er denkt an die Familie Schrieberg und deren Undankbarkeit. Er denkt an die Welt und daran, wie erbarmungslos sie ist. Er denkt an Harlan Hurley und Sam Mansour und daran, wie mein Mann sie zerstörte. Er denkt an Tim Shelly und daran, wie ich ihn und mein eigenes Kind tötete. Er denkt daran, wie er herbeieilte, um uns im Pilzhaus vor Tim zu retten, ich jedoch kaltblütig auf ihn schoss. Er denkt daran, wie ungerecht das Leben ist.
Vor allem denkt Otto Rabun-Bowles an Gerechtigkeit.
Er weiß jetzt, dass der Dokumentarfilm nie gesendet und er bis in alle Ewigkeit wegen Tims und Sarahs Tod missverstanden, für schuldig befunden und verurteilt werden wird. Schon immer war die Familie Rabun missverstanden, für schuldig befunden und für Dinge verurteilt worden, die sie nicht getan hatte.
Die Bildschirme auf den Schößen der Mönche zeigen schließlich, was ich seit meiner Ankunft in Schemaja nicht akzeptieren konnte. Otto Bowles hebt die Waffe und schießt dreimal unhörbar in meinen Oberkörper. Ich sacke in mich zusammen, begrabe Sarah unter mir. Wenige Momente später stürmt die Polizei das Pilzhaus. Sie war doch noch in der Lage gewesen, die E-Mails nachzuverfolgen.
40
Mit gewaltiger Faust schlägt der Sturm auf das Dach des Klosters von Cudi Daği ein, verlangt, dass die Schuldigen für ihr Urteil heraustreten. Als sich der Sturm nicht besänftigen lässt, beginnt der Berg zu beben, das Meer überschwemmt den Gipfel und bricht durch die Klostertür. Der einarmige Erlöser an der Menora löst sich von seinen Nägeln und stürzt Hals über Kopf ins Wasser, doch keiner der Mönche wagt es, ihn zu retten – und vielleicht ist es ihnen auch egal –, da er allein die Verurteilten verschonen würde. Doch im Kloster von Cudi Daği ist kein Platz mehr für Vergebung.
»Sucht ihn!«, schreie ich, meine aber nicht den gefallenen Retter. Ich jage dem Sünder hinterher, Otto Rabun-Bowles, sehne mich danach, das Instrument seiner Qualen zu werden und ihn schreien zu hören. Der donnernde Stromschlag, der seinem Leben ein zu sanftes Ende bereitete, ist nur der Anfang dessen, was ich
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