Was danach geschah
Internet befragt, und in Gesprächsrunden wurden christliche, jüdische und islamische Gelehrte an einen Tisch gesetzt, die über die eigentlichen Gründe für die Existenz von Gruppen wie Die Elf diskutierten. Genau diese Art von internationaler Medienbeachtung hatte sich Otto gewünscht.
Ottos einzige Sorge war, wie seine Mutter, Barbara Rabun, mit dieser Nachricht umgehen würde. Sie weigerte sich, den Journalisten, die ihre Villa in Buffalo belagerten, Interviews zu geben. Doch zu Ottos Überraschung brachten einige Sender am Samstagabend ausgewogene und sogar feinfühlige Hintergrundberichte über Barbara, Amina und die Familie Rabun aus Kamenz – wie Amina die Familie Schrieberg in Deutschland gerettet hatte, wie sowjetische Truppen die Familie Rabun niedergeschossen und Amina und Barbara vergewaltigt hatten, und welchen Verlauf der Streit um die Immobilien und den Besitz der Schriebergs genommen hatte. In einigen Kommentaren wurde sogar ein fast einfühlsames Bild von Otto gezeichnet und gefragt, warum er uns wegen des Holocaust-Dokumentarfilms entführt haben könnte, was Ottos Überzeugung, das Richtige getan zu haben, nur stärkte.
Denn schließlich wollte er nur Gerechtigkeit. Er begann, sein Tun mit Aminas mutigen Heldentaten in Deutschland zu vergleichen, die damals nicht sehr viel jünger gewesen war als er jetzt. Er sah sogar Sarah und mich so, wie Amina die Familie Schrieberg gesehen hatte, und versorgte uns »in heroischer Weise« mit dem zum Überleben Notwendigen: Wasser, Essen, Babynahrung, Windeln und eine karge, aber sichere Bleibe im Wald – zwei verletzbare Fische zwischen tödlichen Seeanemonen. Otto fragte sich: »Beschütze ich im Grunde genommen nicht diese Frau und ihr Kind vor denjenigen, die ihnen schaden könnten? Vor Männern wie Tim Shelly und den Mitgliedern der Elf , die ihnen eines Tages hinterherjagen und sie umbringen würden? Sind sie nicht sicherer, wenn die Welt dank dieses Dokumentarfilms die Wahrheit erfährt?«
Sarah schlief, während ich am ersten Tag unserer Gefangenschaft in diesem widerlichen, stinkenden Pilzhaus wach lag. Das einzige Licht stammte aus kleinen Spalten und Lücken rund um die Tür, und als Toilette diente ein Eimer in der hintersten Ecke. Ich wusste nichts von dem Dokumentarfilm und ging davon aus, dass wir entführt worden waren, um Harlan Hurley aus dem Gefängnis freizupressen. Wahrscheinlich suchten die Polizei und das FBI mittlerweile nach uns. Wir brauchten nur abzuwarten, bis sie uns fanden, und alles vermeiden, was Otto und Tim provozieren würde. Ich betete zu Gott, er möge uns von unseren Feinden befreien. Und sie vernichten.
Als Sarah aufwachte, fütterte ich sie, wechselte ihre Windeln und sang ihr immer wieder Heißer Tee und Bienenhonig vor. Ich erzählte ihr Geschichten über ihren Daddy, ihre Großeltern und Urgroßeltern, selbst über ihre Ururgroßmutter, Nana Bellini. An Nana Bellini hatte ich lange nicht mehr gedacht, und die Erinnerung an sie beruhigte mich. Wir spielten »Backe, backe Kuchen« und kuschelten uns in unseren Schlafsack. Sarah war so brav und tapfer. Sie machte kein Theater und weinte nicht. Ich glaube, sie genoss den engen Kontakt zu mir und die Dunkelheit, vielleicht eine Erinnerung an die Zeit in meinem Bauch.
Otto und Tim kamen abwechselnd, um nach uns zu sehen. Wie beim berühmten Psychologieexperiment an der Stanford University den Kommilitonen die Rollen von Gefangenen und Aufsehern zugewiesen worden waren, ergötzte Tim Shelly sich in der Rolle des Aufsehers. Er schob mich herum, bellte Befehle, sagte obszöne Dinge oder warf unser Essen auf den Boden. Er hatte offenbar selbst keine Überzeugungen, handelte nur nach dem, was andere ihm gesagt hatten, doch für diese anderen würde er sterben – für jeden, den er in dem Vakuum, das der Tod seines Vaters und die Verhaftung von Harlan Hurley hinterlassen hatten, wie ein Kind bewundern konnte. Er war Söldner, kein Märtyrer.
Otto durchschaute diesen Zusammenhang und nutzte ihn aus, spielte mit Tims Phantasien über Schlachten und Kameradschaft unter Waffenbrüdern. Otto benötigte Tims Hilfe – seine Muskeln und sein Fachwissen über Waffen –, um seinen Plan durchzuziehen. Um sein Ziel zu erreichen, log er Tim in fast jeder Hinsicht an. Er behauptete Tim gegenüber, sie würden uns bis zu Harlan Hurleys Freilassung gefangen halten, und die Verhaftung und die Entführung würden den lang vorbereiteten Rassenkrieg auslösen. Tim würde ein großer
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