Was dein Herz nicht weiß
sie die letzten zehn Jahre seines Lebens nicht miterleben können.) Sie würde ihr sagen, dass sie stattdessen ihr eigenes Land würde kennen- und liebenlernen können. Später hatte man nicht mehr viel Zeit, um sich von seinen Eltern und seiner Jugend zu verabschieden. Bevor man sich’s versah, fielen die alten, vertrauten Räume in sich zusammen. Damals wollte sie unbedingt heiraten und weggehen. Doch sie hatte nicht gewusst, dass sie ihr Glück schon gefunden hatte und sich immer weiter von ihm entfernte, je heftiger sie versuchte, es einzufangen.
Soo-Ja wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie eine Hand an der Schulter spürte. Sie öffnete die Augen einen Spalt weit und erkannte, dass es noch nicht Tag, aber auch nicht mehr Nacht war. Das fahle Licht draußen kündigte die Sonne an wie ein vages Versprechen. Min beugte sich über sie, einen gequälten Ausdruck im Gesicht. Als er sah, dass sie wach war, stupste er auch Hana an. Er wirkte beinahe hyperaktiv, und Soo-Ja erkannte, dass er überhaupt nicht geschlafen hatte. Neben dem Bett standen zwei Koffer – der, mit dem sie angekommen war, und ein kleinerer, der Hana gehörte.
»Wie spät ist es? Ist etwas passiert?«, flüsterte Soo-Ja.
»Ich habe ein Taxi bestellt, in zwanzig Minuten ist es da. Es wird dich und Hana zum Flughafen fahren.«
»Wie bitte?« Soo-Ja setzte sich im Bett auf, alarmiert von dem Ernst in Mins Stimme. Er berührte sie sanft an der Wange und wischte ihr den Schlaf aus den Augen.
»Ich will, dass ihr wieder nach Hause fliegt«, sagte er und drückte ihr einen Zettel in die Hand. »Hier sind die Kontonummer und der Name der Bank. Das Geld ist noch da. Es liegt auf der Bank in Seoul.«
»Min, was geht hier vor?«
Er schaute sie an, als wollte er ein Bild von ihr malen, als wollte er sie so in Erinnerung behalten: in der Morgendämmerung, die Haare im Gesicht, die Lippen halb geöffnet, die Augen, die ihn aufsogen wie der Sand die Sonne.
»Ich weiß jetzt, dass es falsch war, Hana hierherzubringen. Und ich hoffe, du kannst mir eines Tages vergeben«, sagte Min.
Soo-Ja schluckte und schloss die Augen. Das alles fühlte sich so seltsam, so surreal an.
»Warum seid ihr schon auf?«, fragte Hana verschlafen.
»Du wirst mit deiner Mutter nach Korea zurückfliegen«, erklärte Min ihr.
»Was? Nein, ich will nicht zurück.« Hana rieb sich die Augen.
»Du tust, was ich dir sage«, sagte Min freundlich, aber bestimmt. »Nur ein einziges Mal wirst du mir gehorchen. Bei allem anderen kannst du machen, was du willst, aber dieses Mal wirst du folgen. Du fliegst mit deiner Mutter nach Hause.«
»Nein. Wenn sie unbedingt nach Hause will, soll sie allein fliegen. Ich bleibe hier bei Großpapa und Großmama.«
»Du glaubst, es ist ganz toll hier, nicht wahr? Du hast keine Ahnung, wie es ist, bei ihnen zu leben. Ich werde nicht zulassen, dass du dasselbe durchmachst wie ich«, sagte Min. Seine Stimme zitterte ein wenig, und Soo-Ja war überwältigt von der Deutlichkeit seiner Worte. Sie wartete darauf, dass er weitersprach, aber er wurde von seinen Gefühlen übermannt. »Jetzt, wo ich wieder bei ihnen bin, kommt die Erinnerung an so viele Dinge zurück. Niemand weiß, was ich als Kind erlebt habe.«
»Ich weiß, was du erlebt hast«, sagte Soo-Ja leise. Sie drehte sich zu ihm und umfasste sein Gesicht mit den Händen. Min hatte noch nie über seine Kindheit gesprochen, aber mit den Jahren hatte Soo-Ja sich erschlossen, welche Qualen er erlitten haben musste. »Ich weiß es.«
Endlich fand Min die Fassung wieder. »Geht«, sagte er.
»Bist du dir da ganz sicher?«
»Wie viel soll ich dir noch wegnehmen, Soo-Ja? Wo soll ich aufhören?«, fragte er mit brüchiger Stimme. Er holte tief Luft. »Ich habe dich reingelegt, Soo-Ja. Ich habe dich dazu gebracht, mich zu heiraten.«
»Bitte sag so was nicht.«
»Ich habe dich reingelegt. Und ich kann dir niemals das zurückgeben, was ich dir genommen habe, aber ich kann dafür sorgen, dass du nicht noch mehr verlierst.«
Soo-Ja und Min sahen einander schweigend an. Draußen begannen die Vögel zu singen. Es war Tag geworden, ohne dass sie es gemerkt hatten.
»Und du?«, wollte sie wissen.
»Ich bleibe hier.«
»Warum?«, fragte Soo-Ja, obwohl sie die Antwort kannte. »Warum? Was ist mit Hana?«
»Ich will bei meinen Eltern sein, wenn sie sterben. Ich will mich um meinen Vater und meine Mutter kümmern. Das ist meine Pflicht als Erstgeborener. Trotz allem, was passiert ist,
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