Was dein Herz nicht weiß
möchte ich ein guter Sohn sein.«
»Das bist du«, erwiderte sie. »Ich habe es schon immer gewusst.« Er würde sich nie ändern, dachte sie. »Aber du bringst ein großes Opfer.«
Min nahm ihre Hand und küsste sie, dann verharrte er mit ihrer Hand an seinen Lippen, sodass sie seinen weichen Atem spüren konnte.
»Vater, nein!«, rief Hana, die ihre Eltern schluchzend beobachtet hatte. »Ich bleibe bei dir. Ich werde nicht mit Mutter nach Korea fliegen.« Hana stieg aus dem Bett und warf sich ihrem Vater in die Arme.
Min hielt sie kurz fest, dann löste er sich aus ihrer Umarmung und schaute ihr fest in die Augen. »Wenn du dich fragst, tief in deinem Herzen, ob du wirklich ohne deine Mutter leben kannst, dann heißt die Antwort: Nein, ich kann nicht ohne sie leben . Deine Mutter hat so viel für dich getan, und sie liebt dich so sehr. Was wäre aus dir geworden, wenn es sie nicht gäbe? Und was wäre aus mir geworden?«
Draußen hörte Soo-Ja Motorengeräusch. Das Taxi war da. Als sie es durchs Fenster sah, fühlte sich plötzlich alles viel realer an, und sie begriff den Ernst der Situation. Sie schaute Min an und sah den Schmerz in seinen Augen.
»Vielleicht … vielleicht kann Hana dich in den Sommerferien ja besuchen kommen?«, schlug sie vor, weil sie ihm den Abschied erleichtern wollte.
Min lächelte freudig. »Ja, natürlich. Hana, ich rufe dich jeden Tag an und schreibe dir jede Stunde.«
Endlich ließ Hana ihren Vater los. Tränen klebten ihr im Gesicht. Langsam zog sie sich an, als würde sie ihr altes Ich überstreifen, das bis jetzt im Schrank auf sie gewartet hatte.
Soo-Ja fragte sich, ob ihre Tochter sie für den Rest ihres Lebens hassen würde. Natürlich würde sie. Sie war ein Teenager. Sie würde immer Gründe finden, ihre Mutter zu hassen und ihre Mutter zu lieben.
Und Min? Wer war dieser Min, der da vor ihr stand? War er die ganze Zeit über da gewesen, und sie hatte ihn bloß nicht gesehen? Oder hatte sie selbst ihn liebevoll erschaffen, jeden Tag ein wenig mehr, indem sie ihm böse Worte ersparte und ihn freundlich anschaute, damit er sie eines Tages – endlich – gehen ließ? Soo-Ja liebte den Mann nicht, den sie geheiratet hatte, aber sie liebte den Mann, von dem sie jetzt schied. Aber sie musste ihn verlassen, gerade, als ihr Herz übersprudelte vor Liebe für ihn. Sie wollte mit diesem Mann reden, ihn besser kennenlernen, diesen Mann, der sich jetzt durchs Fenster ins Taxi beugte und sie betrachtete, als wäre es das letzte Mal. Aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen, und dann fuhr das Taxi los und sie sah durchs Rückfenster, wie Min immer kleiner wurde und schließlich in eine nostalgische Vergangenheit entschwand.
20
In Seoul nahmen Soo-Ja und Hana ihr gewohntes Leben wieder auf. Soo-Ja kümmerte sich um das Hotel und Hana ging zur Schule. Das Geld war noch auf der Bank. Soo-Ja war dort gewesen und hatte sich davon überzeugt. Hätte sie gewollt, hätte sie lange Zeit nicht arbeiten müssen. Aber sie brauchte einen geregelten Tagesablauf, und sie wollte, dass ihr Leben so weit wie möglich aussah wie früher. Sie hatte ihren Vater und ihren Ehemann verloren und spürte den Kummer darüber noch immer tief in ihrem Herzen. Es überraschte sie, dass sie keine Erleichterung, sondern vielmehr Trauer empfand. Soo-Ja kannte nur wenige Frauen, die geschieden waren, und man behandelte sie wie ehemalige Sträflinge – man sprach über sie, freundete sich aber nicht mit ihnen an. Hatte sie – in gewisser Weise – versagt? Sie hatte immer von dem Tag geträumt, an dem sie sich von Min würde befreien können, aber nun, da dieser Tag gekommen war, konnte sie sich nicht darüber freuen.
Soo-Ja machte sich Sorgen um ihre Tochter, obwohl die mit der Entscheidung ihres Vaters anscheinend gut zurecht kam. Hana machte sogar Witze darüber und sagte, jetzt sei sie richtig amerikanisch, da die Mädchen dort doch alle geschiedene Eltern hätten. Schon damals wusste Soo-Ja, dass sie ihre Tochter irgendwann an Amerika verlieren würde. Erst würde sie nur in den Sommerferien hinfliegen, dann dort aufs College gehen, und schließlich würde sie einen amerikanischen Jungen heiraten und für immer bleiben. Und wie erging es Min? Min war immer beschäftigt. Es gefiel ihm, von seinen Eltern gebraucht zu werden. Er fuhr sie herum, spielte Golf, ging mit ihnen angeln und feierte Grillfeste in ihrem Garten. Soo-Ja vermutete, er würde bald anfangen, sich mit einer neuen Frau zu
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