Was deine Augen sagen: Roman (German Edition)
vierundzwanzig Kamelien. Sie hatte noch nie zuvor eine Kamelie in Händen gehalten. Sie waren unglaublich weiß und unglaublich schön. Francesca war bezaubert von ihren zarten Blütenblättern und ihrer vollkommenen Form. Sie musste an den Roman von Alexandre Dumas denken und war zutiefst gerührt. Mit fliegenden Händen öffnete sie das beiliegende Kuvert: »Meine Entschuldigung, Mademoiselle de Gecco. Kamal al-Saud.« Sie hätte am liebsten mit dem Blumenstrauß in der Hand einen Luftsprung gemacht und das Kärtchen an die Brust gedrückt, hätte Sara sie nicht mit diesem empörten Gesichtsausdruck angesehen.
»Er ist von Prinz Kamal, stimmt’s?«
»Ja, er entschuldigt sich für den Vorfall mit der Religionspolizei.«
»So, so, entschuldigen …«, betonte die Algerierin hintergründig.
Francesca überhörte den Kommentar. Sie wollte nicht diskutieren, nur die Blumen bewundern und an den Mann denken, der auch nach zwei Tagen noch an sie dachte und sich Sorgen um sie machte.
Wo mochte er die gekauft haben?, fragte sie sich, nachdem sie selbst Mühe gehabt hatte, ein paar welke, fast verblühte Rosen aufzutreiben.
»Ich sag’s dir«, bemerkte Sara nachdrücklich, »wenn sich ein Araber etwas in den Kopf gesetzt hat, dann bekommt er es auch, um jeden Preis, und wenn er Himmel und Hölle in Bewegung setzen muss. Und dieser Mann will dich für sich, Francesca, ich weiß das.«
»Sara, was redest du denn da!«
»Du solltest meine Worte nicht auf die leichte Schulter nehmen«, schimpfte diese. »In diesem Land braut sich ein Sturm zusammen, und Prinz Kamal befindet sich mitten im Auge des Hurrikans. Du solltest dich von ihm fernhalten und ihn nicht weiter beachten, sonst weiß ich nicht, wohin das führen wird.«
Nach diesen Worten verließ Sara das Zimmer. Francesca setzte sich auf die Bettkante und betrachtete die Kamelien. Wie schön sie waren! Sie nahm die Blumenvase von der Kommode, füllte sie mit Wasser und stellte die Blumen hinein. Es war ein trauriger Gedanke, dass sie schon bald verblühen würden. Wie konnte es sein, dass sie sie eines nicht allzu fernen Tages in den Mülleimer werfen musste? Alles Schöne und Gute ist so vergänglich, dachte sie und sah das Gesicht ihres Vaters vor sich, so voller Leben und mit diesem strahlenden Lächeln, das ihn wie eine Aura zu umgeben schien. Dov’è la mia principessa? Nie würde sie diese Worte vergessen, mit denen er jeden Abend von der Arbeit gekommen war. Auch wenn sie gerade in das Spiel mit ihrer Lieblingspuppe vertieft gewesen war, sobald sie dieses Dov’è la mia principessa? hörte, hatte sie alles stehen und liegen lassen, weil sie wusste, dass ihr Vater sie an seine Brust drücken und dann mit ihr auf dem Arm in die Küche gehen würde, um ihre Mutter zu begrüßen. Sie klammerte sich verzweifelt an diese Erinnerung, weil sie keine anderen an ihren Vater hatte.
Dann folgten der langsame Verfall, die Tränen ihrer Mutter, die Totenwache, der unerträgliche Geruch von Magnolien und Kerzen, das Schluchzen der Nachbarn, die schwarze Kutsche und die Pferde, der Friedhof mit den unheimlichen Grabnischen und der schweigende Trauerzug durch die engen Gassen. Ihr Vater war dahingewelkt, wie es die Kamelien bald tun würden, und hatte eine Leere in ihrer Welt hinterlassen. Gab es etwas Gutes und Schönes, das für immer währte? Auch Aldos Liebe war vergangen und hatte eine nur halb verheilte Wunde hinterlassen, die zuweilen immer noch schmerzte und schwärte.
Am nächsten Morgen klingelte ein Junge an der Botschaft und verkündete, dass er einen Brief für Francesca habe. Kasem wollte ihn entgegennehmen, aber der Junge bestand darauf, noch einmal wiederzukommen, um ihn Fräulein de Gecco persönlich zu überreichen. Widerstrebend bat Kasem ihn herein und bat ihn, zu warten. Auf Sara gestützt, kam Francesca mit verbundenem Fuß zum Eingang gehumpelt.
»Ich bin Francesca de Gecco«, stellte sie sich vor. Sara übersetzte ihre Worte ins Arabische. »Man hat mir gesagt, du hättest etwas für mich.«
»Ja, Fräulein.« Und er reichte ihr einen Umschlag aus Büttenpapier mit ihrem Namen darauf.
Francesca öffnete ihn und zog eine grüne Mappe heraus, die sie sofort als Aldos Visumsantrag erkannte. Auf dem Deckblatt prangte auf Englisch ein großer roter Stempel: »Abgelehnt«.
»Wer hat dir das gegeben?«, fragte sie.
»Mein Chef.«
»Wer ist dein Chef?«
»Jalud bin Malsac. Er arbeitet in der Einwanderungsbehörde.«
Francesca drückte dem Jungen
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